Die Gilden von Morenia 02 - Die Gesellenjahre der Glasmalerin
einfach über die Palastmauer werfen!«
»Das ist genau das, was wir tun können. Diese Wagen, die du beobachtet hast, werden beladen und sind abfahrbereit. Sie müssen wohl in der Dämmerung aufbrechen. Wir brauchen uns nur unter der Ladung zu verstecken.«
»Nur? Mair, das kannst du nicht ernst meinen!«
»Ich habe noch nie in meinem Leben etwas ernster gemeint, Rai.« Wie um ihre Worte zu unterstreichen, trat Mair zum Kamin und hob einen dünnen Stock auf, der an einem Ende schwarz verkohlt war. »Und wenn wir Erfolg haben wollen, werden wir unsere Rolle richtig spielen müssen. Schließ die Augen.«
Unsicher folgte Rani dem Befehl, schloss die Augen und hielt den Atem an. Der Raum neigte sich ungleichmäßig, aber nicht so schlimm wie in der großen Halle. Wasser, frische Luft und die Zeit würden ihre Wirkung zeitigen. Der Wein in ihren Adern wurde von Erwartung verdrängt. Von Angst.
Rani spürte selbst mit geschlossenen Augen, wie Mair näher kam, und dann fühlte sie das Ende des spitzen Stockes, das über ihre Wange geführt wurde. Sie öffnete die Augen erst wieder, als Mair es ihr befahl, und sah sich einem Spiegel gegenüber. Ihr Gesicht wurde von der welligen Oberfläche reflektiert, aber nun zeigte es eine strahlende Sonne, die sich unter ihrem linken Auge ausbreitete. »Eine Sonne!«
»Ja. Als Schwäne würden wir Misstrauen erwecken, und wir sind beide nicht geeignet, als Löwen aufzutreten. Und ich weiß bestimmt nicht genug, um eine ihrer Eulen zu sein. Außerdem haben wir erst eine Hand voll davon gesehen. Es muss aber viele Sonnen im Land geben, die sich um alles kümmern.« Während Mair sprach, neigte sie den Spiegel zu ihrem Gesicht. Sie zeichnete mit raschen, gleichmäßigen Bewegungen ihre eigene Tätowierung. »Versuche, sie nicht zu berühren. Sie wird sich bald genug abnutzen, aber sie könnte uns helfen, wenn wir in der Nähe der Stadt angehalten werden. Wir müssen sie häufig nachzeichnen.«
»In der Nähe der Stadt? Wohin gehen wir, Mair?«
»Ich weiß es noch nicht. Zuerst müssen wir hier herausgelangen. Sin Hazar wird uns nicht so bald an Halaravilli aushändigen. Als Gefangene sind wir für ihn wertvoller, Rai. Wir sind Geiseln.«
»Aber dieses Festessen heute Abend war wunderschön!«
»Ja, und ein Nachtigallenkäfig ist aus feinstem Gold.«
Rani atmete tief ein, um zu protestieren, und spürte die wunde Haut unterhalb ihrer Rippen. Sie betrachtete das Stoffseil und erkannte, dass sie und Mair wirklich keine Wahl hatten. Es bestünde keine Möglichkeit, am Morgen die zerrissene Kleidung zu erklären, keine Möglichkeit, die ruinierten Laken zu rechtfertigen. Die Sonnen in Sin Hazars Dienst würden den Fluchtversuch gewiss melden, selbst wenn die Mädchen nichts weiter unternahmen. Mair hatte für sie beide beschlossen.
»Gib mir deinen Balkareen, Rai. Ich werde ihn noch hier ans Ende knüpfen.«
Rani reichte ihr stumm den Stoff und beobachtete, wie Mair das Kleidungsstück in dicke Streifen riss und sie sicher ans Ende ihres Seils knüpfte. »Was ist, wenn es nicht lang genug ist?«
»Es muss einfach lang genug sein. So oder so.« Mair zog den neuen Seilabschnitt fest und achtete dabei kaum auf ihren verletzten Arm. »In Ordnung. Sollten wir irgendetwas mitnehmen?«
Rani sah sich im Raum um und zuckte die Achseln.
Es befand sich nichts von wahrem Wert in dem Gefängnisraum – keine Waffe, kein Geld, nichts, was den beiden Mädchen geholfen hätte, dem König zu entfliehen. Rani schüttelte den Kopf.
»Also gut.« Mair griff nach ihrem Umhang, der an einem Nagel hinter der Tür hing, und reichte Rani auch ihren. »Es wird heute Nacht kalt werden. Wir finden draußen bessere Kleidung.«
Rani zog den Umhang um ihre dünne, leinene Tunika und hielt ihn am Hals unwillkürlich fest geschlossen. Sie schwieg, bis sie an der Tür standen. »Warte! Mair, wir können das nicht tun! Wir werden oben auf dem Turm sein! Du hast Höhenangst!«
»Ich werde tun, was ich tun muss.«
»Aber Mair…«
»Du verschwendest Zeit, Rai.«
Rani schluckte ihren Protest hinunter und sah sich ein letztes Mal im Raum um. Es gab nichts. Nichts, was sie hier halten würde. Sie nickte Mair zu, die leise die Tür öffnete.
Die Mädchen liefen lautlos die Treppe hinauf, ertasteten vorsichtig jede Stufe. Die Treppe war in sich gewunden, und nach nur einer Biegung konnte Rani das Licht von den flackernden Fackeln der Wächter schon nicht mehr ausmachen, die sich jetzt zwei Stockwerke unter ihnen
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