Die Gilden von Morenia 02 - Die Gesellenjahre der Glasmalerin
befanden. Sie merkte, dass sie sich an der Mauer stützte, aus Angst, den schmalen, inneren Rand jeder weiteren Stufe zu verfehlen. Einige waren unregelmäßig hoch, und einmal stürzte sie schwer und schlug sich das Knie auf. Es gelang ihr jedoch, nicht aufzuschreien.
Mair hatte Wort gehalten – sie hatte das Schloss sauber geknackt. Mair führte Ranis Hände über die Eisenketten, zeigte ihr, wo sie lagen, wo sie hintreten musste, um die Kettenglieder nicht zu bewegen. Dann, bevor Rani die Nerven verlieren konnte, öffnete das Unberührbaren-Mädchen die Tür.
Mair ließ ihnen nur einen Spalt Platz, um hindurchzuschlüpfen, so schmal wie möglich, damit die Fackeln mehrere Stockwerke unter ihnen nicht flackerten. Rani hielt in der frostigen Luft den Atem an, trat aber rasch beiseite, damit Mair die Tür hinter ihnen wieder schließen konnte. Sie zitterte, während das Unberührbaren-Mädchen zum Rand der Brustwehr eilte. Rani konnte im Sternenschein erkennen, wie ihre Freundin das Seil aus der ersten Schießscharte warf und es sicherte. Sie sollten den Turm besser in dessen Schatten hinabklettern. Sie sollten sich besser in der Dunkelheit verbergen.
Rani hörte Mair ächzen, als sie den letzten Knoten festzog. Dann stellte sich das Unberührbaren-Mädchen an die Schießscharte. Sie winkte kurz und wirkte in dem geisterhaften Licht wie ein Geist. Als Rani näher herantrat, sah sie, dass ihre Gefährtin ebenso weiß wie die Leinenstreifen war, die sie zusammengebunden hatte. Mair atmete hastig, und ihre Handflächen waren schweißnass, als sie Ranis Hand zu sich zog, damit sie den Knoten prüfte, der das Seil sicherte.
Rani hob den Stoff an, umfasste ihn mit beiden Händen und atmete tief durch, in Vorbereitung darauf, über die Steinmauer zu treten. »Nein.« Mair sprach dicht an Ranis Ohr, ihre Stimme war kaum hörbar. Das Unberührbaren-Mädchen fügte keuchend hinzu: »Ich werd zuerst gehen. Falls die Knoten nich’ halten. Falls ich nich’ genug Kraft hab.« Mair bewegte ihren kranken Arm wie eine verletzte Schwinge.
Rani widersprach. »Aber ich kann das Seil für dich festhalten, wenn ich erst auf dem Boden bin. Ich kann es dir erleichtern.«
Mair schüttelte heftig den Kopf und brachte nur mühsam die Worte hervor: »Ich bin die Schwächere. Lass mich zuerst gehen.« Als Rani sich weigerte, beiseitezutreten, beugte sich Mair näher zu ihr und zischelte: »Es muss sein. Wenn ich falle, dann lass mich nich’ in dem Wissen gehen, dass ich dich auch zu Fall gebracht hab.«
Es muss sein. Mair hatte Angst, war verletzt und zweifellos erschöpft, aber es gab keine andere Fluchtmöglichkeit.
Rani konnte Mairs Abstieg im Sternenschein nur vage verfolgen. Sie sah, wie das Unberührbaren-Mädchen die Knoten nutzte, um sich abzustützen, wie sie mit Füßen und Händen Halt fand. Mehr als einmal ließ sich Mair wieder auf die Palastwand zuschwingen, lockerte die Anspannung während ihres Abstiegs teilweise, indem sie sich verstohlen an die Mauer lehnte. Langsam und schmerzvoll gelangte sie hinab.
Rani sah zweimal, wie Mair abzurutschen drohte, wenn sie ihren verletzten Arm zu sehr belastet hatte. Einmal stieß das Unberührbaren-Mädchen zischend den Atem aus, laut genug, dass Rani sie hören konnte. Aber die Soldaten hörten sie anscheinend nicht, denn kein Alarm hallte durch die Winternacht.
Als Mair den Boden erreicht hatte, zog sie dreimal an dem Seil. Rani hielt den Atem an und schwang ein Bein über den Rand der Schießscharte. Als sie den ersten Knoten ertastete, erkannte sie, dass sie sich nicht mehr an den Namen des Gottes der Seile erinnern konnte. »Hilf mir, Roan«, flüsterte sie stattdessen an den Gott der Leitern gewandt. »Hilf mir, dieses Seil hinabzuklettern, das in deinem Namen und zu deinen Ehren gemacht wurde.«
Das Gebet beruhigte sie jedoch nicht, nicht zuletzt, weil sie befürchtete, der Gott der Leitern könnte beleidigt sein, wegen eines bloßen, hastig verknoteten Tuchseils behelligt zu werden. Rani vereinfachte ihr Gebet: »Es muss sein.« Sie wiederholte diese drei Worte immer wieder, während sie nach Fußstützen tastete und die Hände für besseren Halt fest verschränkte.
Sie schrie fast auf, als sich Mairs Hand um ihre Wade schloss, konnte ihre Überraschung aber unterdrücken und ließ sich auf den Boden fallen. Sie wankte einen Schritt vorwärts und bemerkte überrascht, dass einige Längen des Seils auf dem Boden lagen – Mairs improvisiertes Gebilde war reichlich lang
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