Die Gilden von Morenia 03 - Die Wanderjahre der Glasmalerin
blonden Strähnen flocht. Ihre Finger schmerzten allmählich vom Umklammern des Lappens, und die Ränder der Glaspaneele schnitten in ihre Oberschenkel ein. Einmal flog ihr eine kleine Mücke ins Auge, und sie rieb das störende Insekt ohne nachzudenken fort, nur um mit dem heftigen Stechen des Reinigungsmittels belohnt zu werden.
Dennoch staunte sie über die Arbeit, die ihrer Obhut anvertraut worden war.
Jedes Paneel verkörperte Techniken, von denen Rani gelesen, die sie aber nie umgesetzt gesehen hatte. Hier wurden drei Glasstücke von einem komplizierten Rahmenwerk gehalten, so dass das Licht durch ihre geschichteten Tiefen drang und tiefe, dunkle Farbschattierungen schuf. Dort waren lange, dünne Stücke in das Haar einer Gestalt eingearbeitet – so fein geschnittene Stücke, dass sie von einem Meister mit einem Diamantmesser gestaltet worden sein mussten. Und da waren Drähte direkt in die Armierung eines Hengstes eingearbeitet, so dass ein Teil des Glases frei schwang und die Illusion der munteren Gangart eines Pferdes schuf.
Diese letzte Kreation nahm Ranis Aufmerksamkeit fast vollständig gefangen. Sie hatte bereits viel über das Gestalten einzelner Glasscheiben gelernt, über das Strukturieren von Fenstern. Sie wusste, wie man eine Zeichnung auf einem Stück Pergament anlegte und wie man diese Zeichnung auf einen gekalkten Tisch übertrug. Aber diese Fertigkeit hier unterschied sich von allem, was sie probiert hatte, von allem, was sie sich vorstellen konnte. Wie die Gauklertruppen selbst, musste das Pferdepaneel beweglich sein. Rani beugte sich dicht über die Metallarbeit und betrachtete, wie der Kunsthandwerker die Verbindungen zusammengefügt hatte, wie er die Kette oben am Glaspaneel befestigt hatte.
Sie konnte sehen, was getan worden war, aber sie wusste nicht, wie es gemacht worden war. Sie konnte sich vorstellen, ein Muster zu erschaffen, verschiedene Abschnitte zu erschaffen, die zusammen ein vollständiges Paneel bildeten. Aber selbst wenn sie das Können besäße, das Glas zu gießen und es zu schneiden, könnte sie es nicht richtig einsetzen. Sie wusste nicht, wie man eine Kette gestaltete, die schmaler war als ihre Finger, gewiss keine Bleikette. Blei würde sich verdrehen, sich wellen und sich dehnen. Es mussten irgendwelche unbekannten Werkzeuge und Fertigkeiten zum Einsatz gekommen sein, um die Glieder des Hengstes zu erschaffen.
Rani hob beide Teile des Paneels über ihr Gesicht und ließ das Blei im Sonnenschein baumeln. Sie konnte die Furchen winziger Werkzeuge ausmachen, sorgfältiger Kunstfertigkeit. Die Werkzeuge mussten jedoch feiner sein als alles, was sie je zuvor gesehen hatte, als alles, was sie jemals benutzt hatte, um Bleiruten zu bearbeiten…
»Atme, Mädchen!«
Rani erschrak so sehr, dass sie das Glaspaneel beinahe fallen ließ. »Tovin!«, sagte sie, als Flarissas Sohn neben sie trat.
»Mutter hat dir also Arbeit aufgetragen, hm?«
»Ich habe mich freiwillig dazu gemeldet!« Rani verteidigte die Gauklerin sofort. »Ich wollte die Glaswaren studieren. Das war unser Handel, als ich mich von ihr hypnotisieren ließ.«
»Es gibt keine bessere Art zu studieren, als die Paneele zu berühren.«
»Ja«, stimmte Rani ihm zu, unsicher, ob Tovin sie kritisierte. »Ich habe mir die Ketten angesehen, dort. Ich weiß nicht, wie Ihr sie gemacht habt.«
»Werkzeuge, Ranita Glasmalerin. Du weißt doch sicher, dass ein Handwerker nur so gut ist wie seine Werkzeuge.«
Sie verzog bei dem abgedroschenen Spruch das Gesicht. »Aber welche? Ich habe noch niemals gesehen, dass Glasmalerwerkzeuge eine so feine Kette gestalteten.«
»Ich könnte es dir zeigen, Ranita, aber du müsstest für das Wissen bezahlen.«
Rani warf einen raschen Blick auf das glatte Gesicht des Mannes, auf seine ruhigen Züge. Sie war sich plötzlich der Tatsache bewusst, dass das Paneel auf ihre Oberschenkel drückte, dass sich Sonnenlicht heiß über ihre Brust ergoss.
Sie spürte, wie sie errötete, und sie rang um eine Antwort. »In welcher Währung also?«
»Dieselbe wie zuvor«, sagte Tovin leichthin. »Lass dich von mir hypnotisieren. Erzähle mir mehr über dein Heimatland.«
Über ihr Heimatland. Wohl eher über die Gefolgschaft. Das hatte Tovin beim ersten Mal interessiert. Dennoch hörte Rani die Forderung wie eine durstige Frau, die einem Springbrunnen lauscht. Sie sehnte sich nach dem Hypnotisieren, nach der unendlichen Ruhe dieses veränderten Zustandes. Und wenn sie außerdem etwas über die
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