Die Gilden von Morenia 04 - Die Prüfung der Glasmalerin
sie es nicht konzentrieren, aber das gerade stehende heftete sich auf Rani. »Bitte!«, krächzte Berylina, das eine Wort wie die Wasserflut aus dem Munde eines fast Ertrunkenen klingend. Sie streckte beide Hände aus, stieß Pater Siritalanu fort.
Rani spürte, wie sich die Finger der Prinzessin um ihre schlossen. Berylina umklammerte sie mit mehr Kraft, als sie dem Mädchen jemals zugetraut hätte. Gerade als Rani aufschreien wollte, spürte sie eine Woge von Energie – heiß kalt schwarz weiß scharf scharf scharf.
Ranis Hand pochte unter dem Puls, und dann ihr Arm, ihr Nacken, ihr ganzer Kopf. Sie spürte eine Macht wie diejenige vor Jahren, in Morenia, als Hal sie vor dem alten König geprüft hatte. Damals hatte man sie gezwungen, ihre Hand auf die Kugel des Inquisitors zu legen. Sie musste sie dort belassen, während die Kugel unter der Macht all ihrer Gedanken, ihres Glaubens, ihrer Träume und Erwartungen heiß brannte. Jetzt öffnete Rani den Mund, um aufzuschreien, aber sie konnte keinen Laut hervorbringen, kein Wort bilden.
In der Leere hörte sie Berylinas Flüstern, hörte die Worte, welche die Prinzessin nur einen Moment zuvor geteilt hatte. »Nome benutzt keine Worte! Nome bringt den Klang der Musik. Er flötet, wie die Gaukler an meinem Geburtstag! Er spricht in Musik!«
Und Ranis Kopf war von Musik erfüllt – der perfekteste, jemals geflötete Gigue, der perfekteste, jemals gespielte Reel. Ihr Herz raste mit der Musik, pulsierte mit den Noten. Sie hörte die Musik in ihrem Innersten, sie spürte sie in ihrem Sein. Sie wurde die Musik. Sie wurde Nome.
Und dann, als ihr Herz wieder eigenständig schlagen konnte, spürte sie die anderen Götter in den Schatten stehen, diejenigen, von denen sie wusste, dass sie Berylina besonders heilig waren. Da waren Mip und Nim. Ile und Zil. Und dort, in einem Winkel von Ranis Geist, dorthin verbracht, wo sie ihn eher für immer ignorieren würde, war Tarn, der Gott des Todes. Er war in grün-schwarze Wirbel gehüllt, schillernd wie der Rücken eines Käfers.
So sah Berylina also die Welt. So arbeitete ihr Geist hinter ihren schielenden Augen. Dem also huldigte sie, wenn sie auf ihre Pilgerfahrt ging, wenn sie ihren Glauben jenseits der Welt gewöhnlicher Menschen erklärte.
Rani wurde einen kurzen Augenblick jäh in ihre Jugend in Moren zurückversetzt. Als sie erst dreizehn Jahre alt gewesen war, hatte sie auf den Stufen des Hauses der Tausend Götter gestanden, war vom alten Heiligen Vater persönlich begrüßt worden. Der uralte Mann hatte sie zur Ersten Pilgerin des Jahres ernannt. Er hatte sie in einen symbolischen Stand erhoben, sie in das Leben geworfen, das sie jetzt führte.
Damals hatte Rani geglaubt, dass sie die Götter hören sollte, sie in ihrem alltäglichen Leben umhergehen spüren sollte. Sie hatte sich dafür geschämt, dass sie nichts empfand. Sie war sich bewusst gewesen, dass sie etwas vorgab, dass sie Anspruch auf eine Heiligkeit erhob, die ihr durch kein Recht zustand.
Dies war jedoch anders. Dies war real. Dies war wahr.
Rani fragte sich, wie Berylina diese Schönheit hatte vermitteln können. Sie fragte sich, welche Macht die Prinzessin benutzt hatte, welche Magie sie gewirkt hatte, welches umgekehrte Hypnotisieren sie gestaltet hatte. Vielleicht war Berylina wirklich eine Hexe.
Noch während dieser beängstigende Gedanke in Ranis Geist auftauchte, verwarf sie ihn wieder. Berylina hatte hier nichts Böses gewirkt. Sie hatte ihre Kräfte nicht benutzt, um jemand anderem zu schaden. Stattdessen hatte sie sich ausgestreckt, um Schönheit und Macht und Licht zu teilen. Sie hatte sich ausgestreckt, um ihr Wissen über all die Tausend Götter zu teilen.
»Mylady«, sagte Rani und neigte den Kopf.
»So erkenne ich die Götter, Ranita Glasmalerin. So erkenne ich sie in meinem innersten Herzen.«
»Ich verstehe, Mylady.«
»Einige sagen, ich sei wegen dieses Wissens böse.«
»Dann sprechen sie unwissend.«
»Sie werden mich bekämpfen, Ranita Glasmalerin. Sie werden darum kämpfen, mich als Hexe zu begraben, weil sie nicht verstehen. Sie werden mich mit Erde ersticken.«
»Davor werde ich Euch bewahren.« Rani hob den Kopf zu ‘ dem einzigen, schmalen Fenster, blinzelte ins Licht, das plötzlich zu hell schien. »Ich verspreche Euch, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, um Euch davor zu bewahren.« Eintausend Visionen und Gerüche, Geschmäcker und Klänge und Berührungen stiegen in einer freudigen Kakophonie
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