Die Gilden von Morenia 04 - Die Prüfung der Glasmalerin
Berylina musste sich auf etwas konzentrieren, irgendein Hilfsmittel, das sie tiefer in die Hypnose brachte. Rani sah sich in der Zelle um, fand aber zu diesem Zweck nichts, nichts, was funktionieren würde, bis auf den Tausendspitzigen Stern an ihrem Umhang. Sie nahm das bearbeitete Gold an sich und balancierte es auf ihrer Handfläche.
»Gut, Mylady«, sagte sie, während sie überlegte, was sie tun musste. Was würde Tovin sagen? Wie würde er Rani kritisieren, wenn er herausfand, dass sie das Instrument der Gaukler verwendet hatte? »Ihr müsst es Euch so bequem wie möglich machen. Legt meinen Umhang um Eure Schultern. Nein. Kein Widerspruch. Ich werde ihn zurücknehmen, wenn ich gehe, um mein Hemd zu bedecken, aber Ihr dürft jetzt nicht an Euren Körper denken müssen.«
Sehr zu Ranis Überraschung fügte sich Berylina. Die Prinzessin legte die Wolle um ihre Schultern, und dann öffnete Rani die Faust, die sie um ihren Tausendspitzigen Stern geschlossen hatte. Sie neigte ihn zu dem schwachen Sonnensplitter vom Fenster des Raumes, wandte ihn, um mehr von diesem Licht zu reflektieren. »Betrachtet den Stern, Mylady.«
Rani versuchte, sich zu erinnern, wie Tovin sie am Anfang in die Hypnose geführt hatte, wie er sie anfänglich in den veränderten Zustand gebracht hatte, in dem sie ihre Vergangenheit sehen konnte, in dem sie Zugriff auf all die Energie und Leidenschaft und das Wissen hatte, die sie jemals errungen hatte. »Schaut ins Licht, Mylady, und lasst es zu einem Teil von Euch werden. Lasst es Euer Führer und Euer Weg sein. Lasst es Eure Augen und Euer Sehvermögen sein. Lasst es Euch in Euer Herz und durch Euren Geist bringen. Lasst es Euch in Eure Gedanken führen, weiter und weiter, so dass Ihr jenseits dieses Raumes gelangt, jenseits von Brianta.«
Berylina hatte sich schon auf den Stern konzentriert, sobald Rani das Symbol ausstreckte. Ihr Atem vertiefte sich mit jedem Satz, den Rani äußerte. Die Lippen der Prinzessin hörten auf zu zittern, und ihr Gesicht glättete sich, wurde sorglos. Rani spürte, wie sich unter ihrem Brustbein Macht aufbaute. Sie leitete diese Hypnose!
»Berylina, ich werde Euch bitten, für mich zu zählen. Nach jeder Zahl, die Ihr nennt, atmet tief durch. Während Ihr ausatmet, werdet Ihr tiefer in den Stern reisen, tiefer in Eure Gedanken, tiefer in die Hypnose. Jeder Atemzug wird Euch größeren Frieden bringen. Jede Zahl wird Euch Eurem Selbst, Euren Gedanken, Eurem wahren, inneren Sein näherbringen. Wenn Ihr möchtet, könnt Ihr beim Zählen die Augen schließen. Nun sagt mit mir die erste Zahl. Eins.«
»Eins.« Berylina flüsterte das Wort, und dann füllte sie ihre Lungen, atmete tief durch, als bereite sie sich auf eine großartige Verkündigung vor. Sie hielt den Atem einen langen Moment an und atmete dann wieder aus. Rani konnte spüren, wie der Atem die Prinzessin tiefer trieb, näher an ihr Innerstes, näher an die Tiefe des Hypnotisierens. »Zwei.« Berylina wiederholte das Wort, und als sie zum zweiten Mal ausatmete, schloss sie die Augen. »Drei.« Rani spürte, wie sie tiefer gelangte, weiter, ferner.
Rani wartete darauf, dass Berylina die nächste Zahl nennen würde, aber die Prinzessin schwieg. Sie füllte weiterhin ihre Lungen, atmete so tief ein, dass Rani sich fragte, ob die Nähte ihres engen Gewandes platzen könnten. Aber dann atmete die Prinzessin wieder aus, zog sich an einen noch ferneren Ort zurück.
»Sehr gut«, sagte Rani, nachdem die Prinzessin ein weiteres halbes Dutzend Atemzüge getan hatte. »Ihr könnt die Macht des Sterns spüren. Ihr könnt all die Tausend Spitzen zählen. Ihr könnt Euch zwischen ihnen entlangwinden, Euren Weg finden, Euch führen, bewegen, bewegen, bewegen. Folgt dem Stern zurück zu einem speziellen Tag, Berylina. Findet die wichtigste Erinnerung in Eurem Herzen, in Eurem Geist. Folgt dem Stern zu jenem Tag.«
Rani wartete, während Berylina nachdachte. Empfindungen zuckten über das Gesicht der Prinzessin – Angst und Verletztheit und Zorn. »Ruhig, Berylina«, sagte Rani. »Ihr könnt die Erinnerung wählen. Ihr könnt einen Ort erwählen, der sicher ist. Einen Ort, an dem Ihr gelernt habt, an dem Ihr gewachsen seid. Keine Eurer Erinnerungen kann Euch verletzen. Nicht hier. Nicht jetzt.«
Berylinas Atem beruhigte sich, und ihr Gesicht wurde ausgeglichen. Der tiefe Atem – oder vielleicht Ranis warmes Gewand und der Umhang – hatten ein wenig Farbe in ihre Wangen zurückgebracht, eine Andeutung von
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