Die Gilden von Morenia 04 - Die Prüfung der Glasmalerin
lebenswichtig war.
Eine Nachricht der Gefolgschaft hatte auf Rani gewartet, als sie nach dem Essen in ihren Turmraum zurückkehrte, ein kleiner Streifen Pergament, der sich mitten auf ihrem Werktisch kräuselte. »Sprich um Mitternacht mit Jair.« Nun, wo sich die Nacht dieser Stunde näherte, läutete die Pilgerglocke, ihr stetiger Ruf von den Rani umgebenden Mauern gedämpft. Sie erschauderte, als sie an andere mitternächtliche Verabredungen dachte, andere geheime Treffen, die in Tod und Chaos geendet hatten.
Dennoch trieb sie ein seit langer Zeit bestehendes Gefühl der Verpflichtung der Gefolgschaft gegenüber zum neuesten Treffpunkt der Gruppe. Rani legte den Weg vom Palast zurück, ohne ihr Ziel preiszugeben. Sie konnte entrinnen, indem sie betont zwei Kerzen zur Schau stellte und Nomes Namen flüsterte. Niemand, nicht einmal der eifrigste der Männer des Königs, würde eine Andächtige herausfordern, welche die Absicht zu haben schien, den verstorbenen Prinzen zu huldigen.
Rani schritt ruhig aus, während sie auf die Kathedrale zuhielt. Erst nachdem sich die Straße bog und sie außer Sicht des Wachhauses war, beschleunigte sie ihren Schritt und eilte zum Händlerviertel.
Dieser Teil Morens war während der letzten drei Jahre wiederaufgebaut worden. Breite Straßen durchschnitten den alten Teil der Stadt, das Feuer nutzend, das das frühere Gewirr enger Gassen dem Erdboden gleichgemacht hatte. Rani vermisste die verschlungenen Seitenwege ihrer Kindheit, die gewundenen Straßen, die sie sich schon eingeprägt hatte, als sie noch Laufen lernte.
Das neue Viertel rühmte sich jedoch einer von Davins größten Erfindungen. Der alte Tüftler hatte vorgeschlagen, hinter jeder Reihe Händlerläden ein System von Durchgängen anzulegen. Dieser Plan gewährte den Familien, die über ihren Läden wohnten, private Eingänge. Lieferungen konnten heimlich erfolgen, so dass sowohl Diebe als auch Konkurrenten ferngehalten wurden. Es konnten Abflüsse in die Durchgänge gelegt werden, so dass die Hauptstraßen sauberer blieben, einladender für Kunden, welche die Händler ernährten.
Davin hatte tagelang mit den Stadtplanern diskutiert und darauf beharrt, sein System sei den zusätzlichen Platz, das an die Durchgänge verlorene Land wert. Der Händlerrat war geteilter Meinung. Niemand wollte eine Prämie für Land bezahlen, das nicht unmittelbar von Kunden überquert wurde, aber alle stimmten zu, dass Händler potentielle Kunden zufriedenstellen mussten. Letztendlich hatte Hal selbst den Plan gutgeheißen.
Rani fragte sich, ob die Gefolgschaft bei der Gestaltung der Durchgänge eine Hand im Spiel gehabt hatte. Drei ihrer letzten Treffpunkte waren auf einen dieser dunklen Durchgänge gemündet. Das Ziel heute Abend war nicht anders – während sie sich tiefer und tiefer in das Viertel vorarbeitete, hörte sie rund um sich herum Familien bei der Arbeit und beim Spiel. Dennoch war sie vor Zeugen geschützt, die ihr Vorübergehen vielleicht bemerkt hätten, wenn sie sich auf den Hauptstraßen aufgehalten hätte.
Sie fragte sich, wie ihre eigene Familie auf die neue Gestaltung reagiert hätte. Ihre Mutter hätte die Abgeschiedenheit des Hintereingangs geliebt, die Möglichkeit, Schmutz und Unrat aus den Räumen herauszuhalten, in denen die Waren verkauft wurden. Ihr Vater hätte jedoch über das verlorene Land geschimpft. Jotham Händler hätte ausgerechnet, wie viele Läden auf dem Gelände der verbundenen Durchgänge hätten stehen können. Er hätte seine Frau genau daran erinnert, was ihre gescheuerten Böden kosteten. Ranis Mutter hätte über die Neckerei gelacht und Jotham erklärt, die Sauberkeit sei den Preis drei Mal wert…
»Sprich, Genossin.«
Rani erschrak. Sie war so in ihren Erinnerungen, in ihren Träumen verloren gewesen, dass sie niemanden sich hatte nähern hören. Dennoch würgte sie ihre Antwort hervor: »Der Spatz verbirgt sein Herz in den Wolken.« Spatz. Herz. Wolken. Nicht so grausam wie andere Passwörter der Gefolgschaft.
»Gut. Folge mir.« Der Befehl wurde mit einer so sanften Stimme geflüstert, dass Rani sich nicht sicher war, ob ihr Führer ein Mann oder eine Frau war. Die Gestalt hielt eine Laterne in der Hand, die fast vollständig abgeschirmt war. Nur ein schmaler Lichtstrahl fiel auf den Boden, lenkte Ranis Füße eine schmale Treppe hinab. Sie schlich einen engen Gang entlang und lief geduckt durch mehrere niedrige Eingänge.
Wohin gingen sie? Wie konnte dieses ausgedehnte
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