Die Gilden von Morenia 04 - Die Prüfung der Glasmalerin
Befehle erhalten. Du wirst verstehen, was du tun musst, um auf die Enthüllung des Königlichen Pilgers hinzuarbeiten.«
»Darum habt Ihr mich mitten in der Nacht gerufen? Um mir zu sagen, ich solle in Brianta nach Gefolgsleuten Ausschau halten?«
Die Augen des Heiligen Vaters funkelten bei ihrem rebellischen Tonfall. »Ich habe dich gerufen, Ranita Glasmalerin, um dich vor der Bedeutung deiner Reise zu warnen. Geh nicht davon aus, dass du unverändert nach Morenia zurückkehren kannst. Geh nicht davon aus, dass du die Lasten, die du in Brianta übernimmst, leicht abstreifen kannst. Geh nicht davon aus, dass dein Weg leicht sein wird. Und geh nicht davon aus, dass die Gefolgschaft zulassen wird, dass du dich vor deinen Pflichten drückst. Du bist durch heilige Schwüre an uns gebunden. Es wird von dir erwartet, diese Schwüre zu halten. Du gehst dorthin, um die Glasmalerprüfung abzulegen, aber du wirst auch von der Gefolgschaft gefordert werden.«
»Und wenn ich scheitere?«
»Ahhhh«, seufzte der Heilige Vater, und Rani konnte beinahe glauben, dass ihn die Worte, die er sagen musste, traurig stimmten. »Wenn du an der Gefolgschaft versagst, wirst du aus unseren Reihen ausgeschlossen werden.«
»Ausgeschlossen? Nicht mehr an Treffen teilnehmen dürfen?«
»Nicht mehr von alledem sprechen dürfen, was du weißt.«
»Die Gefolgschaft kann mir nicht das Wort verbieten!«, antwortete Rani hitzig.
»Nicht solange du lebst, nein. Wir können nichts tun, solange du lebst.«
Sie hörte die Drohung, so offenkundig wie der gesprochene Part eines Schauspielers. Sie wollte protestieren, aber sie wusste, dass sie nichts gewinnen würde, wenn sie mit dem Priester stritt. Stattdessen beugte sie den Kopf, schluckte schwer und kämpfte gegen die Flamme der Rebellion an.
»Ist das alles, Vater?«
»Das ist alles, was ich dir jetzt sagen kann. Reise sicher, Ranita Glasmalerin. Möge Jair dich stets im Blick behalten.«
Die Kathedralenglocken verkündeten genau in diesem Moment die Stunde nach Mitternacht, ein einzelnes, bronzenes Klingen, das Ranis Rückgrat hinabdrang wie ein Langspieß. Bevor sie sprechen konnte, vollführte Dartulamino ein heiliges Zeichen und verschwand dann in den Schatten am entgegengesetzten Ende des Raumes. Rani konnte nur durch die dunklen Gänge zurückgehen. Ihr Führer war nirgendwo zu finden.
Während sie durch das Händlerviertel zum Palast zurücklief, fragte sie sich, ob die Abschiedsworte des Heiligen Vaters als Segen oder als Warnung gedacht waren. In dieser Nacht fand sie, während sie nach einer Antwort suchte, keinen Schlaf.
5
Parion Glasmaler nahm sich Zeit, um die Gewänder auszuwählen, die er zur Begrüßung der Verräterin tragen würde. Er war schon vor langer Zeit mit den Schichten Stoff vertraut geworden, hatte akzeptiert, dass ihm die Erhabenheit und Macht, die er als Gildemeister befehligte, seine Kleidung vorschrieben. Er hielt vor einem polierten Spiegel inne und betrachtete das Gesicht, das ihn daraus ansah.
Tiefe Linien hatten sich in dieses Gesicht gegraben, Furchen, die das Alter und die Erschöpfung und sein Sehnen nach Rache bewirkt hatten. Parion galt einst als gut aussehender Mann – er wusste das durch das Geschwätz und das Flüstern von Frauen, denen er vertrauen konnte. Er war auch ein gefürchteter Mann. Die Menschen zögerten, seinen Zorn zu erwecken, die berühmte Wut heraufzubeschwören, die unter der Oberfläche seines ruhigen Gildeverhaltens lauerte.
Seine Eltern waren keine Glasmaler gewesen. Sein Vater war Waffenmeister, der mehr Zeit im Soldatenviertel als im Viertel der Gildeleute seiner Jugend verbracht hatte. Parions Mutter war Meisterin in der Stickergilde – sie konnte mit offenen oder geschlossenen Augen zartere Muster erkennen, als irgendjemand sich vorstellen konnte.
Parion hatte von beiden Eltern Kunstfertigkeit erlernt. Von seinem Vater hatte er die Bedeutung starker Arme und mächtiger Muskeln übernommen, um schweres Eisen zu handhaben. Und von seiner Mutter hatte er den Wert der Feinfühligkeit übernommen. Er wusste, dass ein einzelner, auf eine bestimmte Art ausgeführter Stich das Erscheinungsbild eines gesamten Wandteppichs verändern konnte. Er wusste, dass gute Arbeit bei einem vollendeten Stück den Unterschied bedeutete. Einzelheiten zählten.
Und als Glasmaler wandte Parion jene Lektionen an. Er musste Fenster fertigen und ausreichend schwere und sichere Halterungen gestalten, um die zarten Glasscheiben zu
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