Die Gilden von Morenia 04 - Die Prüfung der Glasmalerin
schützen. Er musste auch malen, Ausdrücke und Gedanken darstellen, einzelne Linien, die von Tausenden von Betrachtern vom Boden einer Kathedrale aus erkannt werden konnten.
Parion hatte die Lektionen seiner Eltern gut angewandt. Er hatte vielleicht Fehler gemacht, er hatte vielleicht Missgriffe getätigt, aber er hatte nie denselben Irrtum zwei Mal begangen.
Der Glasmaler strich seufzend seine Kleidung glatt. Er hatte heute tiefstes Gold gewählt – eine Topasfarbe, die im Licht vom Fenster üppig schimmerte. Sollte die Verräterin bei ihrem Treffen geblendet sein. Sollte sie den Reichtum der Gilde ermessen, den die Glasmaler erworben hatten, seit sie von Morenia fortzogen. Sollte sie sich fragen, ob Parion eine Einschüchterungs- oder eine Grußbotschaft gesandt hatte.
Und wenn sie die Empfindung hinter ihrem Willkommen in der Gilde erkennen konnte, dann war sie ein besserer Spürhund als er. Denn Parion wusste selbst nicht, was er empfand.
Er war sich bewusst, dass er als Gildemeister verpflichtet war, alle ihm verschworenen Glasmaler zu schützen. Er war sich bewusst, dass er verpflichtet war, die Lehrlinge und Gesellen und Meister zu ehren, die ihre jeweiligen Prüfungen abgelegt hatten, die sich der Gilde angeschlossen hatten, von anderen Verpflichtungen frei und enthoben. Er war sich bewusst, dass er der priesterlichen Regierung Briantas Stand halten musste, damit seine Gilde als vom bürokratischen Gewirr der Pilger getrenntes Wesen existieren konnte.
Aber musste er eine Verräterin willkommen heißen? Musste er seine Arme für jemanden öffnen, der die Glasmaler buchstäblich Leben und Glieder gekostet hatte? Würde er den Glasmalern nicht besser dienen – den wahren Glasmalern, denjenigen, die sich der Gilde mit Herz und Seele und Händen überantwortet hatten –, würde er ihnen nicht besser dienen, wenn er die Verräterin vernichtete? Er vollführte, ohne nachzudenken, automatisch das Zeichen des Flehens, sandte seine Gedanken an Clain, bat um die Führung und den Schutz des Gottes.
Es klopfte an der Tür, und Parion wandte sich jäh um. Ein Lehrling trat ein und strich über die Gebetsglocke, bevor er sagte: »Sie ist eingetroffen, Meister. Ranita Glasmalerin.«
Parion hörte die Ehrfurcht in der Stimme des Jungen, das Erstaunen, dass eine Gestalt aus der reichen Vergangenheit der Gilde unter ihnen wandeln konnte. Nun, er war ganz genauso sehr Teil dieser Geschichte. Er war ganz genauso ein Mitglied der Gilde. Er vollführte dem Lehrling gegenüber ein Zeichen der Dankbarkeit, seine Finger den briantanischen Brauch automatisch ausführend. »Gut. Ich werde sie in der Audienzhalle empfangen.«
Die Audienzhalle, dachte er, während das Kind auf seine Geste antwortete. Das war ein großartiger Name für den größten Raum des Gildehauses. Die Glasmalergilde in Morenia hatte sich hoher Mauern und glänzender Fenster gerühmt, die beste handwerkliche Arbeit der Gilde wie ein Schatz hervorgehoben. Hier in Brianta hatte die Gilde unbefugt Land von Jin betreten, dem Gott des Brotes, dessen Gefolgsleute schließlich genug Gold gesammelt hatten, um sich ein weiteres Haus zu bauen, ein großartigeres Symbol für ihre Hingabe.
Die Glasmaler waren zu arm gewesen, um Jins alte Gebäude niederzureißen. Stattdessen hatten sie das religiöse Gelände angenommen, ein niedriges Gebäude in Schlafsäle verwandelt und ein weiteres in Werkstätten. Die Küche war zum Versammlungsort geworden, ein dunkler Raum mit niedriger Decke und rauchgeschwärzten Dachsparren.
Der Raum roch noch immer nach verbranntem Brot, nach den schwärzlichen Opfern, die Pilger für Jin geröstet hatten. An einem guten Tag war der Geruch tröstlich, für Parion eine stärkende Erinnerung daran, dass er ein Mensch war, dass sein Bauch gefüllt werden musste. Er erinnerte sich an die Nahrung tagtäglicher Kämpfe, den schwachen Nährwert der Rache.
Und an schlechten Tagen erinnerte ihn der Geruch verbrannten Brotes an Asche. Die Asche des niedergerissenen und zerstörten morenianischen Gildehauses. Die Asche seines ruinierten Lebens. Die Asche der Begräbnisscheiterhaufen, wie desjenigen, der Morada versagt blieb.
Dies war ein schlechter Tag.
Parion fuhr sich mit der Hand durchs Haar und verließ hinter dem Lehrling das Arbeitszimmer. Fast wie als Nachgedanke strich er mit der Hand über die Glocke innerhalb der Tür. Es konnte nicht schaden, Clains Segen auf dieses Unterfangen herabzubeschwören. Es konnte überhaupt nicht
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