Die gläserne Gruft
Spiegel.
Das Licht hatte ich noch nicht eingeschaltet. Mir reichte das, was aus dem Raum hineinfiel.
Die Wärme hatte mich gewarnt. Etwas Böses lauerte in der Nähe, das stand fest.
Nur – wo?
Ich drehte mich in dem kleinen Raum auf der Stelle. Mein Blick war starr geworden und blieb wieder am Spiegel hängen.
Ich schaute auf die blanke Fläche, die in der Mitte gar nicht mal so blank war. Für meinen Geschmack sah sie aus, als wäre sie durch irgendetwas beschmiert worden.
Ich schaltete das Licht ein.
Aus dem Zimmer hörte ich Harry’s Stimme. »He, John, hast du was gefunden?«
»Bleib mal da.«
Ich wollte mich auf den Spiegel konzentrieren und vor allen Dingen auf dessen Mittelteil. Mit Spiegeln hatte ich meine besonderen Erlebnisse gehabt, denn nicht immer waren sie auch das, was sie vorgaben.
Ich hatte sie erlebt als Eingänge in andere Dimensionen. Oder als Gegenstände, die den Schrecken aufbewahrt hatten, um ihn irgendwann wiederzugeben. Deshalb hätte es mich nicht gewundert, wenn mir plötzlich der Henker entgegengeschaut hätte.
Sah ich ihn?
Nein, aber da war etwas.
Der Fleck blieb in der Spiegelmitte bestehen. Es war amorph. Es gab keine eigentliche Gestalt, als hätte jemand etwas dagegen geschleudert, das sich an einer bestimmten Stelle entsprechend verteilt hatte. Es war auch nicht nach unten gelaufen wie Wasser, das der Erdanziehung folgt.
Der Fleck interessierte mich. Er war etwas Besonderes. Ich sah ihn als einen Hinweis an, und zugleich konnte dieser Spiegel dem Henker den Fluchtweg freigemacht haben in eine andere Welt oder Dimension. Möglich war alles.
Am leichten Luftzug merkte ich, dass die Tür weiter geöffnet wurde. Harry Stahl betrat das winzige Bad auf Zehenspitzen, das für uns beide zu klein war. Deshalb blieb er auch auf der Schwelle stehen und wunderte sich über meine angespannte Haltung.
»Was gibt es denn, John?«
»Er war oder ist noch hier.«
»Wieso?«
»Ich habe ihn gespürt.«
»Aber ich sehe nichts.«
»Dann schau auf den Spiegel.«
Das tat er auch, und ich bekam den leisen Ausruf der Verwunderung mit. »Das soll er sein?«
Ich musste lächeln. »Nein, das nicht, aber er könnte den Spiegel als Fluchtweg benutzt haben, denn du weißt selbst, dass er mit Glas seine Erfahrungen gemacht hat.«
»Das weiß ich mittlerweile auch.«
Je länger ich gegen die Trübung auf der Spiegelfläche schaute, desto dunkler kam sie mir vor. Aber der Fleck veränderte sich trotzdem nicht. Er blieb starr. Er geriet nicht in Bewegung, und ich sah auch nichts in seinem Innern.
»Hast du ihn schon angefasst?«
»Nein.«
»Soll ich...?«
»Unterstehe dich, Harry.«
»Schon gut. War nur eine Frage.«
Man kam an den Spiegel gut heran, weil das Waschbecken darunter wirklich nur sehr schmal war und deshalb nicht störte.
Ich streckte eine Hand aus. Es war kein Problem, die Fläche zu berühren, aber ich berührte sie nicht in der Mitte, sondern nur an den Seiten, wo Normalität vorherrschte.
Wie so oft streifte ich mit den Fingerspitzen über eine Fläche hinweg. Es war nichts Fremdes zu fühlen. Hier herrschte die Glätte vor und auch die Normalität. Mich durchrieselte nichts, und ich spürte auch keine Erwärmung an der Brust.
Aber es gab hier etwas. Ich musste es nur herausfinden.
»Nichts, John?«
Ich nickte.
Danach ließ ich meine rechte Hand auf die Spiegelmitte zugleiten. Ich hatte mir keine Vorstellungen darüber gemacht, ob ich etwas Anderes berührte oder unter meinen Fingerspitzen eine raue Fläche spürte, deshalb war ich über die normale Glätte auch nicht weiter überrascht und nahm sie hin.
»Das war’s«, sagte ich.
Harry lachte. »Aber nicht wirklich.«
»Nein, das nicht.« Ich griff an meinen Hals und bekam dort die Silberkette zu fassen. Wenig später rutschte das Kreuz an meiner Brust in die Höhe und glitt dem Kinn entgegen. Als das Kreuz auf meiner Hand lag, da war auch wieder die Wärme zu spüren. Der Beweis, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zuging, hielt sich.
»Darf ich auch mal?«, fragte Harry.
»Sicher.«
Er strich über das Kreuz hinweg. »Tatsächlich«, flüsterte er. »Es hat sich erwärmt.«
Ich behielt den Fleck im Auge, als ich meinen Talisman näher an die Mitte des Spiegels heranbrachte.
Die innerliche Aufregung war für mich schon zu spüren, obwohl ich ähnliche Szenen schon des Öfteren erlebt hatte.
Was hatte der Henker hier hinterlassen? Ein Erbe? Sich selbst? Oder wollte er nur seinen Fluchtweg zeigen,
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