Die Glasblaeserin von Murano
Schatten trat. Da fuhr er herum und versetzte Corradino eine solche Ohrfeige, dass dessen Lippe aufplatzte und er zu Boden ging. Nun hatte er Grund zu weinen. «Franco, zum letzten Mal, geh und hol Wasser! Che stronso!» Giacomo wandte sich wieder der Gestalt zu. «Diese Burschen, ich kann Euch sagen ... Ich wünschte, die Zehn würden uns ein paar Adelige zum Arbeiten herschicken. Die sind wenigstens nicht so schwer von Begriff.»
Die Augen hinter der Maske wanderten von Giacomo zu dem Jungen auf dem Fußboden. Ohne Hemd, dreckig, blutend und schniefend lag er da. Bloß ein Glasaffe. Der schwarze Umhang bauschte sich - und der Spitzel war verschwunden.
Giacomo zog den tränenüberströmten Jungen vom Boden hoch und schloss ihn fest in die Arme, während er weinte und weinte. So sollte er ihn noch Jahre später fest halten, wenn Corradino, der nun als Lehrling in Giacomos Haus lebte, schreiend aus dem Schlaf auffuhr.
In meinem Traum riecht meine Mutter nach Vanille und Blut.
Giacomo erzählte den anderen Maestri nie, woher sein neuer Lehrjunge stammte. So wie er Corradino nie erzählte, was sein Nachbar ihm über das Haus berichtet hatte, in dem die Familie Manin aufgespürt worden war. Man hatte es als allgemeine Warnung hinterlassen - leer, die Leichen fortgeschafft, doch die weißen Wände von oben bis unten mit Blut besudelt, wie in einer Schlachterei.
Natürlich fanden sie Corradino schließlich doch. Aber sie brauchten dazu fünf Jahre. Und als es so weit war, konnte Giacomo, nun Meister der Fondaria, in der Sala del Maggior Consiglio des Dogenpalastes für das Leben seines Lehrlings bitten. Da stand er, eine winzige Gestalt angesichts des riesigen Gewölbes mit den üppigen rotgoldenen Fresken, und setzte sich bei den Zehn für seinen Lehrling ein. Glücklicherweise konnte er als Argument Corradinos fast schon übernatürliche Begabung für das Glasblasen anführen, auf die man in der Fondaria nicht verzichten konnte. Schon jetzt zeigte der mittlerweile fünfzehnjährige Junge eine Geschicklichkeit im Umgang mit Glas, wie Giacomo sie noch nie zuvor gesehen hatte.
Der Rat war geneigt, Corradino am Leben zu lassen. Die Familie Manin war beinahe vollständig ausgelöscht,
stellte also keine Bedrohung mehr dar, außerdem würde Corradino wie die anderen Vetraie als Gefangener auf Murano leben.
Wie hätten all jene, die dort versammelt waren, als Giacomo um Corradinos Leben flehte, auch wissen sollen, dass sie sich täuschten, was die Zukunft der Familie Manin betraf? Wie hätte der arme Corrado Manin wissen sollen, dass seine Familie eines Tages endlich doch zu Ruhm gelangen und einer seiner Nachfahren tatsächlich auf dem Dogenthron sitzen würde? Sie alle ahnten nicht, dass Lodovico Manin als letzter Doge von Venedig in eben diesem Saal das Ende der Republik besiegeln würde. Mit dem Vertrag von Campo Formio sollte er im Jahre 1797 die Stadt an Österreich verkaufen, und Manins Namenszug sollte unter dem des neuen Herrschers von Venedig stehen: Napoleon Bonaparte.
Wenn der Rat auch nur die leiseste Ahnung davon gehabt hätte, hätte er Corradino Manin sicherlich nicht verschont. Doch so schenkte er ihm das Leben.
Kapitel 9
Paradiso Perduto
Am Samstag um Viertel vor drei ging Leonora zur Cantina «Do Mori». Als sie vor den unverwechselbaren Türen aus einfachem Flaschenglas stand, zögerte sie. Was, wenn sie sich mit dieser Verabredung in die nächste zweideutige Situation hineinmanövrierte? Oder Bardolino gar nicht vorgehabt hatte, hierher zu kommen, und jetzt irgendwo mit seinen Kollegen über sie lachte? Leonora gab sich selbst einen Ruck - sie war doch nicht mehr in der Grundschule! Die Ablehnung, die sie auf der Arbeit erfuhr, belastete sie so sehr, dass sie langsam zu einer fixen Idee wurde. Bardolino hatte sein Angebot sicherlich ernst gemeint - er half damit ja auch seiner Cousine, einen Mieter zu finden. Es war wohl am besten, hineinzugehen und sich der Situation zu stellen.
Da es regnete, war das Lokal recht voll. Trotzdem gelang es Leonora, im hinteren Teil einen ruhigen Tisch zu ergattern. Er stand unter einem großen Doppelspiegel. Sie bewunderte die Arbeit und das alte Glas, das in seinem vergoldeten Barockrahmen leicht grünlich golden schimmerte. Winkel und Kanten waren fehlerlos, obgleich das Stück wohl schon mehrere hundert Jahre alt war. Leonora bestellte einen Espresso und blickte sich müßig um. Die Gäste waren eindeutig Venezianer, und der Kellner hatte auch
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