Die Glasblaeserin von Murano
Und dieser Gedanke brachte Corradino auf den zweiten Hinderungsgrund.
Noch immer klangen ihm die letzten Worte Duparcmieurs in den Ohren. «Was seid Ihr der Republik Venedig schon schuldig? Warum solltet Ihr nicht ein neues Leben beginnen, in Frankreich, mit Eurer Tochter?»
Genau so war es. Er liebte seine Arbeit - sie bedeutete alles für ihn -, doch er war sich auch darüber im Klaren, dass er nur wegen seiner Kunstfertigkeit noch am Leben war. Sollte er aus irgendeinem Grund nicht mehr arbeiten können, wäre er vermutlich verloren. Und sie hatten ihm noch Schlimmeres zugefügt... «Sie haben Euch Eurer gesamten Familie beraubt... Fast der gesamten ...» Und dieses «fast» war der dritte und wichtigste Grund, warum er Duparcmieur nicht anzeigte.
Leonora.
Während der Tage und Wochen, in denen Corradino auf eine Nachricht wartete - so lange, bis er anfing sich zu fragen, ob er das alles wohl nur geträumt hatte -, wuchs in ihm das Verlangen, mehr über den Plan des Franzosen zu erfahren. Würde er wirklich mit Leonora ein neues Leben im Ausland beginnen können? Mit ihr, die er so sehr liebte, wie er - außer seiner Mutter - nie zuvor jemanden geliebt hatte.
Mit der Zeit wandelte sich seine Furcht in ungeduldiges Warten. Würde die ersehnte Botschaft denn niemals eintreffen? Hatte jemand anders - womöglich Baccia - den Franzosen angezeigt, und wurde er jetzt in diesem Moment gefoltert oder lag im Sterben oder war bereits tot?
Doch dann, eines Abends, kam endlich die lang ersehnte Nachricht. Giacomo teilte Corradino mit, dass er sich am nächsten Mittag mit Maestro Domenico im Teatro Vecchio treffen sollte. Corradino hob sich vor Schreck der Magen. Er schaffte es noch, beiläufig zu nicken, dann rannte er nach draußen und erbrach sich in den Kanal.
Und nun, nach einem Irrweg durch die Treppenhäuser und Korridore des Teatro Vecchio, stand er hier vor diesem Vorhang. Wenn er ihn beiseite zog, gab es kein Zurück mehr.
Jetzt könnte ich noch gehen.
Mit einem heiseren Krächzen stieß er den Namen hervor. Keine Antwort. Mit einer Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung dachte er schon, es sei niemand da. Doch dann erklang die Stimme, an die er sich so gut erinnerte, hinter dem Vorhang.
«Si. Avanti.»
Mit zitternder Hand zog Corradino den schweren Stoff beiseite und tat seinen ersten Schritt ins Ungewisse. Wie Dante in der Göttlichen Komödie setzte er auf der Hälfte seiner Lebensreise seinen Fuß auf einen neuen Weg. Dabei wusste er weder, wer der Führer war, dem er sich anvertraute, noch, wohin die Reise ging. «Ihr seid also gekommen, Corradino.»
Corradino erstarb die Antwort auf den Lippen. Er hatte kein Auge für den Sprecher, sondern starrte wie gebannt auf das Schauspiel, das sich tief unter ihm abspielte.
Er befand sich auf einer Art kastenförmigem Balkon, der über dem weiten Raum zu schweben schien. Ein goldener Bogen, mit einem Übermaß an barockem Zierrat geschmückt, überspannte die Bühne unter ihm, die im Licht von tausend Kerzen erstrahlte. Und was für Gestalten dort auf der Bühne standen! Das waren nicht die Figuren aus der «Commedia dell'Arte» oder die farbenfrohen Kostüme des Carnevale, sondern richtige Schauspieler, prächtig herausgeputzt mit Gold, Silber und Juwelen. Inmitten einer Gruppe, die eine antike Szene nachstellte, stand eine wahrhaftige Prinzessin und sang so ergreifend schön, dass Corradino all seine Angst und Sorgen vergaß. Doch hier erklangen keine frommen Choräle wie in der Pietä, dies hier war ein fröhliches, weltliches Lied in einer ihm unbekannten Sprache.
«Monteverdi», hörte er Duparcmieurs Stimme. «Es ist eine Arie aus . Man hielt den Komponisten für eine Art Genie, aber er war zugleich, wie das meistens so ist, ein überaus schwieriger Mensch. Wart Ihr noch nie in der Oper?»
Ganz benommen schüttelte Corradino den Kopf.
«Solche Freuden erwarten Euch in Paris, einer Stadt voller Kultur. Zieht den Vorhang zu und setzt Euch zu mir, dann können wir uns unterhalten, während wir dem Gesang lauschen. Man darf uns auf keinen Fall zusammen sehen, deshalb treffen wir uns jetzt während der Probe.»
Corradino kam der Bitte noch nicht nach, sondern wartete, bis sich seine Augen ein wenig an die Dunkelheit in der Loge gewöhnt hatten und er sein Gegenüber einigermaßen gut erkennen konnte.
«Nehmt doch Platz, mein Lieber. Hinter Euch steht ein Sessel.»
Corradino setzte sich und warf dabei einen
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