Die Glasblaeserin von Murano
ein Virus in der gesamten Fondaria ausgebreitet hatte. «Ich kann mich nicht so in den Vordergrund drängen. Das ist völlig undenkbar.»
«Im Gegenteil», widersprach Adelino. «Ihre Familie ist schon länger hier ansässig als jede andere. Es war Corrado Manin, der der hiesigen Glasindustrie zu ihrem Welterfolg verholfen hat. Und auch Sie haben Talent, ein sehr vielversprechendes Talent. Machen Sie sich keine Sorgen um die anderen. Wenn es uns gelingt, mit der Kampagne das Geschäft anzukurbeln und damit die Arbeitsplätze der Männer zu sichern, werden sie und ihre Familien Ihnen dankbar sein. Vielleicht kann ich ihnen dann sogar eine Prämie zahlen.»
Diesem Argument konnte sich Leonora nicht verschließen. Sie wollte den Kollegen nur zu gern helfen. Und wenn es mit der Fondaria erst wieder aufwärts ging, würde vielleicht sogar Roberto ihre Leistungen anerkennen, und sie konnten einen neuen Anfang wagen. Außerdem war sich Leonora darüber im Klaren, was passieren würde, falls sie Adelino diesen Gefallen nicht tat. Wozu sollte er, wenn sein Geschäft schlecht lief, eine überzählige Kraft, noch dazu eine Anfängerin, beschäftigen? Er würde sie entlassen müssen, und dann wäre es aus mit dem Traum, eine Glasbläserin zu werden.
Ich bin sozusagen der Braten in der Metzgertheke.
«Na gut, mir scheint ja nichts anderes übrig zu bleiben», sagte Leonora ergeben.
Statt einer Antwort drehte sich Adelino zu den Mailändern um. «Sie ist einverstanden. Ihr könnt loslegen.»
Chiara und Semi schauten erstaunt von ihrem Layout auf. Es war ihnen nie in den Sinn gekommen, dass Leonora nicht mitmachen könnte.
Endlich war Adelino allein. Ihm tat der Kopf weh nach dieser langen Diskussion, in deren Verlauf Leonora den Werbeleuten einige Zugeständnisse an den guten Geschmack abgerungen hatte. Er schaute auf den Bildschirm seines alten Computers, wo noch immer, still und unbeweglich, das Porträt des zehnjährigen Corradino zu sehen war. Adelino wandte sich an den längst verstorbenen Künstler: «Wirst du mir helfen, Corradino?»
Dann riss er sich zusammen und ging hinüber zum Fenster. Das Flip-Chart war auf dem Rückweg nach Mailand, also konnte er seinen Blick wieder ungehindert über die Lagune schweifen lassen - wie ein Kaufmann aus alter Zeit, der darauf wartete, dass seine reich beladenen Handelsschiffe sicher in den Hafen einliefen.
Kapitel 12
Der Traum eines Königs
Corradino krallte seine schweißfeuchten Hände in den schweren Samtvorhang. Die Angst lief in Wellen durch seinen Körper. Seine Eingeweide verkrampften sich, und er war so benommen, dass er sich einen Augenblick lang nicht mehr darauf besinnen konnte, was er sagen sollte.
«Maestro Domenico?» Endlich fiel ihm der Name wieder ein, den er einen ganzen Monat lang im Stillen unablässig wie eine Beschwörungsformel wiederholt hatte.
Nach seiner Begegnung mit Duparcmieur war Corradino wieder an die Arbeit gegangen und hatte versucht, weiterzuleben wie bisher. Doch nichts war mehr gewesen wie zuvor. Wieder und wieder rief er sich das Gespräch ins Gedächtnis, jedes Wort, jeden Blick, jeden Unterton. Tagelang war er hin- und hergerissen zwischen der Furcht und der Erwartung, dass Maestro Domenico ihn rufen ließe. In Corradinos Träumen hatte dieser Name Gestalt angenommen. Hinter Duparcmieurs Maske verbargen sich die verwesenden Züge seines Onkels Ugolino und erschreckten ihn mehr als einmal fast zu Tode. Auch die Vorstellung, dass die Zehn von dem heimlichen Treffen erfahren haben und ihm nun nach dem Leben trachten könnten, versetzte ihn in Angst und Schrecken. Corradino erwog sogar, den Franzosen beim Rat zu denunzieren - er konnte einen Agenten zum nächsten Treffen mitnehmen, dann würde Duparcmieur getötet werden, und er selbst stünde als ergebener Untertan der Republik da.
Drei Dinge hielten ihn davon ab: zum einen sein eingefleischter Widerwille, in die Fußstapfen seines Onkels Ugolino zu treten und jemanden durch einen Zettel, in den Bocca di Leone geworfen, ans Messer zu liefern. Lange Zeit war es ihm merkwürdig vorgekommen, dass in Dantes «Divina Commedia» - die für ihn zur Bibel geworden war - der unselige, stammelnde Verräter im Abgrund der Hölle den gleichen Namen trug wie sein geliebter Onkel. Doch inzwischen hatte er begriffen, wie passend diese Namensgleichheit war.
Mein Onkel beging den übelsten Verrat - er verriet seine Familie.
Dagegen war Hochverrat am Staat eine vergleichsweise kleine Sünde.
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