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Die Glasfresser

Titel: Die Glasfresser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giorgio Vasta
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dir nicht erlauben, ein Opfer zu sein.«
    Ich spüre das Gewicht ihres Körpers auf der Brust, ein einengendes Gefühl.
    »Du bist kein Opfer, Nimbus. Du bist mit ihnen. Nicht wie sie vielleicht, was immer das heißen mag, aber du bist mit ihnen.«
    Sie spricht aus solcher Nähe zu mir, dass meine Augen sich kreuzen und ich schiele.
    »Du handelst nicht«, sagt sie noch. »Keine Aktion außerhalb der Übungen, kein wirkliches Wort außerhalb des Alphastumm.«
    Ich bin still und schnüffele an ihr. Sie riecht nach feuchter Erde. Und nach Urin. Und nach Exkrementen. Nicht nach Exkrementen. Nach Scheiße. Nicht nach Urin. Ich weiß nicht, wonach. Sie scheint zufrieden zu sein, so auf mir zu sitzen, mir ihren Geruch ins Gesicht zu drücken.
    »Weißt du, was es unmöglich macht, dass du ein Opfer bist?«, fragt sie mich.

    Es ist klar, dass sie keine Antwort von mir erwartet.
    »Die Tatsache«, fährt sie bitter fort, »dass du auch jetzt Ansprüche stellst, Unterschiede machst. Und emphatisch bist. Du spielst nur das Opferlamm. Du bist kein Opfer, Nimbus, du bist seine Karikatur.«
    Ich lasse den Nacken tiefer ins Kissen sinken, meine Augen schließen sich. Die Krüppelkatze seufzt tief, wendet sich um, geht von meiner Brust herunter, macht sich an meinen Beinen entlang auf den Weg.
    »Versuch wenigstens zu schlafen«, sagt sie.
    Ich höre nicht mehr, wie sie vom Bett springt, ich schlafe schon.
    Um zwanzig nach sieben werde ich wach, draußen ist es dunkel. Ich wasche mir kurz das Gesicht, trinke ein paar Schlucke aus dem Wasserhahn. Verlasse das Haus, gehe schnell. Als ich die Villa Sperlinga erreiche, sehe ich Strahl auf einer Bank sitzen. Er kommt mir entgegen, macht mir Vorwürfe wegen der Verspätung. Ich bitte ihn um Entschuldigung, und wir gehen los. Auf dem Weg schweigen wir. Kurz bevor wir an der Tür im Viale delle Magnolie ankommen, sagt er mir, mit festem Blick auf den Asphalt, ich müsse sachlicher werden, professioneller. Seine Stimme klingt mechanisch, die Silben sind wie abgerissen.
    Wir gehen die Treppen hinunter, die Gänge entlang, erreichen die zweite Tür. Strahl klopft leise, in einer codierten Folge. Von der anderen Seite kommen andere Klopfzeichen. Noch einmal klopft Strahl, ich nehme an, es ist ein Ja, und Flug öffnet uns. Als wir eintreten, rieche ich sofort den Gestank: Es sind kaum mehr als vier Stunden vergangen, und die Luft ist unerträglich.
    Das elektrische Licht brennt, die Eierkartons schlucken es, schwächen es ab. Flug spricht mich nicht an, will von Strahl Erklärungen für die Verspätung. Sie diskutieren flüsternd, angespannt. Außer ihren Stimmen hört man nichts. Keiner der beiden scheint den Gestank zu beachten. Sie sprechen nicht über mich, sondern darüber, ob Moranas Familie wohl jemanden benachrichtigt hat oder nicht. Nach Flugs Ansicht braucht das Zeit. In einer Familie wie dieser, meint er, wird nur mühsam etwas wahrgenommen,
bemerkt man die Dinge langsam. Das ist ein Umstand, der uns gelegen kommt, sagen sie, weil Moranas Familie, auch wenn ihr sein Verschwinden aufgefallen ist, zunächst zögern wird, sich bei der Schule zu melden, geschweige denn bei der Polizei.
    Während sie, eingetaucht in das Summen des elektrischen Lichts, sprechen, kommt aus dem Inneren des Verschlags kein Geräusch, keine Bewegung.
    »Wir müssen ihm zu essen geben«, sagt Strahl.
    Sie wenden sich der Zelle zu. Der Riegel wird zurückgeschoben, die Tür geöffnet. Der Gestank verstärkt sich. Flug streckt einen Arm ins Innere, schüttelt ein Bein Moranas, sagt ihm, er soll herauskommen. Ich höre, wie sein Hintern über den Boden schleift, während Flug ihn langsam an den Beinen herauszieht. Er beugt sich vor, sein Kopf erscheint, ein letzter heftiger Ruck, um ihn herauszubekommen, er hebt den Kopf. Flug packt ein Ende des Klebebands, macht es ab und nimmt ihm den Knebel aus dem Mund.
    »Nicht sprechen«, befiehlt er.
    Erneut ein überflüssiger Befehl. Morana spricht nicht und wird nicht sprechen. Morana wartet. Er wartet nicht einmal. Morana ist, Morana ist einfach da. Er ist ein Organismus, er besteht aus Zellen. Es ist, als wolle alles an ihm uns daran erinnern: Ich existiere nur als kleiner Körper. Keine Wahrnehmung der Gegenwart, keine Vorstellung von der Zukunft. Wie die Katzenjungen, die ich im Sommer im Nacken packe: ein Schweben in etwas, das nicht einmal Vertrauen ist, sondern das Bewusstsein, keine andere Wahl zu haben.
    Flug macht den Karton auf, nimmt Kekse und eine leere

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