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Die Glasfresser

Titel: Die Glasfresser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giorgio Vasta
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verlagert, zu den flüchtigen Gestalten auf
dem Nachhauseweg im Tumult der Stimmen und der Rempeleien, zum Himmel und zur Sonne und zu den Schatten - und hinter meinem Rücken und um mich herum ist jetzt alles und bin auch ich selbst nur Leere und Verschwinden.
     
    Auf der Lichtung, bei unserem Busch, tauft uns Scarmiglia.
    »Nach den Gesichtern müssen wir die Namen wechseln«, sagt er. »An ihrer Stelle werden wir Kampfnamen wählen. Meiner wird Flug sein. Genosse Flug. Denn in diesem Wort ist das Projekt enthalten, der Blick von oben und der Traum.«
    Bocca ist unsicher. Es ist nicht klar, ob er verschiedene Möglichkeiten im Kopf hat oder ob er gar keine hat. Er ist still und nimmt sich eine Minute.
    »Genosse Strahl«, sagt er dann. »So will ich mich nennen. Es ist ein bescheidener Name, eine Art, mich klein zu machen. Einer der Strahlen zu sein, der das Zentrum mit dem Umkreis verbindet.«
    Ich bin an der Reihe. Meine Stimme kommt flach und matt heraus.
    »Nimbus. Ich werde mich Nimbus nennen. Genosse Nimbus.«
    Während ich das sage, zeichne ich mit dem Zeige- und dem Mittelfinger der Rechten einen Kreis hinter meinem Kopf.
    »Der Nimbus«, sage ich, »ist ein Licht. Ein Schicksal, das mit dem Kampf zu tun hat.«
     
    Am Nachmittag beschnuppere ich die Leute im Fernsehen, lasse mir den Kopf mit Schädlingsbekämpfungsmittel besprühen, gehe dann ins Bad und wasche es ab. Im Radio sagen sie, dass die Tage vergehen und keine Nachricht von Moro mehr kommt, dass das Land den Atem anhält. Aber, denke ich beim Zuhören, wenn alle den Atem anhalten, sinkt die Seifenblase langsam und zerplatzt.
    Als die Schnur mit dem Topf nach unten geht, um die Katzen zu füttern, begleite ich sie.
    Die Krüppelkatze liegt immer noch an dem Mäuerchen, den Hals gekrümmt, die Hinterpfoten gestreckt und hart. Ein Fragezeichen. Sie ist in einer Aureole aus Kot gestorben, und jetzt
bewegt sich die Aureole, wimmelt von gefräßigen Ameisen. Mit den Augen suche ich den Bauch, das Loch, doch es sind zu viele Ameisen, es ist alles weg.
    Ende des Im-Kreis-Laufens, Ende des Miauens, Ende der Demütigung und der Wut: Die Krüppelkatze ist tot, bleibt tot, und jetzt fressen sie alle auf - die gefräßigen Ameisen, die kleinen Fliegen, die sich auf ihr anhäufen, selbst die Luft frisst sie auf. Ich sollte sie verbrennen, denke ich. Ein Seil um eine Pfote binden, sie irgendwohin ziehen, sie verbrennen. Dann denke ich nichts mehr, die Tränen kommen mir hoch, ich schlucke sie hinunter, indem ich die Gesichtsmuskeln anspanne. Die Schnur legt mir eine Hand auf den Kopf, sachte. Wir bleiben so eine Weile, die tote Krüppelkatze, die Hand der Schnur auf meinem Kopf. Dann sagt sie zu mir: »Geh ins Haus, ich komme gleich nach.«
    Ich gehe nach oben in mein Zimmer, entkleide mich, lege mich ins Bett und ziehe gleich die Beine an, presse sie gegen die Brust, weil ich eine Ahnung von Schmutz unten auf dem Betttuch habe, Kotflecken und Klumpen von Ameisen.
    Es ist das Ende der Simulationen, der nutzlosen Spasmen, der Infektion, die nicht infiziert.
    Das Geräusch der Wohnungstür, die sich öffnet, höre ich nicht, ich schlafe ein.

Konstruktion
    25. Juni 1978
    Im Fernsehen ist die Fußballweltmeisterschaft.
    Jeden Tag treffen wir uns bei mir oder bei Scarmiglia, wo es einen Farbfernseher gibt, und sehen uns die Spiele an. Westdeutschland - Polen, Italien - Frankreich, Schweden - Brasilien, Iran - Peru. Dann gehen wir nach draußen, in den Park gegenüber von unserem Haus oder auf den großen Platz vor der Schule, bauen uns aus Steinen Pfosten und stellen die Tore nach.
    Es ist eine Unterwerfungsübung. Wir verzichten darauf, einfach für uns zum Spaß zu spielen, und akzeptieren stattdessen, nachahmend, untergeordnet zu sein, erst dranzukommen, wenn das Ereignis eingetreten ist, um es zu wiederholen. Spielen wird zum Experiment, das Labor, in dem wir die im Fernsehen beobachteten Aktionen studieren und reproduzieren.
    Um das Ausgleichstor von Rossi gegen Frankreich nachzustellen, brauchen wir Tage. Am Anfang erscheint es uns unmöglich, dieses Chaos abgeprallter Bälle zu ordnen - zu schnell, zu zufällig. Wir machen Versuche, indem wir Bocca, der unser Torwart ist, erlauben, den Ball, der in die obere Torecke gehen muss, zurückzuschlagen, während Scarmiglia und ich uns schnell bewegen, um unsere eigenen Schüsse zu behindern. Wir kommen durcheinander, hören auf. Wir nehmen Papier und Stift und skizzieren Segmente, die Bahnen, auf denen die Füße

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