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Die Glasfresser

Titel: Die Glasfresser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giorgio Vasta
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uns hätten untersuchen lassen: Wir hätten welche gehabt und sie hätten uns rasiert.
    Ich setze mich hin und sehe Morana in seiner Bank. Als wir in die Klasse gekommen sind, hat er uns für einen Augenblick angeschaut und dann den Blick abgewandt. Ich starre ihn weiter an, bis er sich zu mir hinwendet: Er hat einen ruhigen und unterwürfigen Ausdruck, ein wenig überrascht, als würde er mich an einem Ort begrüßen, wo er sich niemals vorgestellt hätte, mich zu treffen.
    In der Pause setzen wir uns auf die Treppe, die aus der Schule hinausführt, in die Nähe des geschlossenen Gittertors. Scarmiglia lächelt uns an, erklärt. Seine Stimme besteht aus einer perfekten
Folge von Maßen. Meter, Zentimeter, Millimeter. Jedes Wort bezeichnet und bedeutet etwas. Er sieht uns an, ohne je den Blick von unseren Schädeln abzuwenden, ohne sich je zu unterbrechen, ohne zu zögern.
    »Gewalt«, sagt er, »ist nicht gefährlich. Sie ist nicht gefährlich und nicht schlecht. Gewalt, auch wenn dies ein Paradox scheint, ist nicht gewaltsam. Sie wird erst gewaltsam, wenn man sie schlecht gebraucht. Andernfalls ist es eine Ästhetik, ein Stil. Ein Projekt.«
    Er macht eine Pause, will sicher sein, dass wir ihm folgen. Ich nicke ihm zu und versuche unterdessen zu verstehen, wie und wann er über all dies nachgedacht hat. Er wartete auf nichts anderes als darauf, Ideologe einer brigadistischen Zelle in ihrer Entstehung zu werden.
    »Es gibt Phänomene«, fährt er fort, »die per se gewaltsam sind, ohne dass wir ihre Gewalt erkennen. Essen ist gewaltsam, Verdauen ist gewaltsam, es ist gewaltsam zu laufen, und es ist gewaltsam zu sprechen. Gleichzeitig werden andere Phänomene überbewertet. Zerbrechen, Zerschneiden, Zerreißen, Zertrümmern. Zu glauben, sie seien gewaltsam, ist falsch, denn sie sind es nicht: Sie sind befruchtend. Der Same muss aufbrechen, die Zellen müssen sich teilen, der Körper des Neugeborenen muss aus dem Körper der Mutter gerissen werden. Anders gibt es kein Leben. Diese Phänomene sind befruchtend und begründend. Romulus tötet Remus und gründet eine Stadt. Kain tötet Abel und entscheidet, welchen Lauf unsere Geschichte nimmt. Gewalt ist mutig, weil sie die Existenz von Schmerz und Schuld anerkennt und zugibt. Die Roten Brigaden haben den Mut zur Schuld und das Bewusstsein des Schmerzes. Die Roten Brigaden entstehen aus Angst und Verlangen. Aus der Angst vor Distanz; aus dem verzweifelten Verlangen, im Zentrum der Zeit zu existieren. Im erglühenden Herz der Geschichte. Um nicht zu verschwinden, um sichtbar zu bleiben. Denn dies ist es, was wir uns, ohne es uns bewusst zu machen, antrainieren, was sie uns antrainieren. Zu verschwinden.«

    Von der Piazza De Saliba, der Scarmiglia, während er spricht, den Rücken zuwendet, wankt etwas heran. Es geht ungefähr zwanzig Meter, es ist ein Hund. Noch einer. Palermo ist übervoll von Hunden. Sie werden aus dem Asphalt der Straßen geboren. Hunde aus Stein, gemischt mit Bitumen. Auch dieser wirkt mitgenommen, sieht aus, als hätte man ihm fetzenweise Fleisch aus dem Körper gerissen. Er kommt auf uns zu, auf der anderen Seite des Gitters. Er sieht uns an, setzt sich hin. Scarmiglia bemerkt nichts.
    »Die Mittel, zu denen die Roten Brigaden greifen, um dieses Projekt der Sichtbarkeit zu verfolgen«, fährt er fort, »sind Aktionen. Exemplarische Aktionen. Im Augenblick ist die Macht in Italien ein Klumpen unbeweglicher Energie, dessen einziges Ziel das eigene Überleben ist. Wir müssen uns exemplarische Aktionen ausdenken, die in der Lage sind, diesen Klumpen zu zerschlagen.«
    Der Hund, der ungefähr eine Minute lang geduldig zugehört hat, ist noch näher gekommen. Er sieht Bocca und mich an, als wolle er fragen, was hier los ist. Wir sagen nichts, und er schiebt die Schnauze durch die Gitterstäbe, schnüffelt an Scarmiglias Schädel. Doch Scarmiglia ist von seiner Rede berauscht, nimmt nur die Worte wahr.
    »Um die Phase der Aktionen zu erreichen«, sagt er, »brauchen wir Zeit. Wir haben mit dem Rasieren der Köpfe begonnen, aber das genügt nicht. Wir brauchen gesellschaftlich unverträgliche Aktionen. Also benötigen wir eine Struktur. Eine Strategie, ein Training. Nur dann können wir uns in Form von realen Aktionen äußern.«
    Der Hund hat den Kopf wieder aus dem Gitter herausgezogen und begonnen, sich zu lecken. Er säubert eine Pfote, dann beugt er sich zurück und leckt sich den Bauch. Er hört auf, sieht uns in die Augen, sieht Scarmiglias Nacken

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