Die Glasfresser
mich hin, um zu lesen, werde sofort müde, stehe wieder auf, gehe von der Kabine zum Meer. Beim Gehen hinke ich ein bisschen und schüttele auch den Kopf, wie einer, der was erlebt und erfahren hat.
Stehend, das Wasser umfließt meine Knöchel, betrachte ich mit zusammengekniffenen, visionären Augen die Form, die Bewegung
und das Schäumen der Wellen. Meine Art, die Welt zu verführen, sie zu beunruhigen. Eine Cinzia und eine Loredana, zwanzigjährig, kommen vorbei, machen halt und beobachten mich: einen minutenlang inmitten des Geschreis spielender Kinder versunken dastehenden Jungen. Ich wende mich ab, sie sehen mich immer noch an, und fahre mir, damit sie begreifen, was los ist, mit der Hand über die Rippe, verziehe dabei den Mund. Sie winken mir zu und lächeln mich an. Dann taucht hinter mir eine Patrizia auf, geht zu den beiden Freundinnen, sie begrüßen sich und entfernen sich lachend. Ich verachte sie.
Ich setze meinen Rundgang fort und schaue mich um, warte, zeige mich und sehe zu, dass ich bemerkt werde. Während ich mit der großen Zehe Gräben im nassen Sand mache, spüre ich das Pochen des Schmerzes bei jedem Luftholen, lege erneut die Hand auf den Brustkorb und fühle unter meinen Fingern das Dröhnen der Welt.
Am Freitagnachmittag, den 14. Juli, begleite ich meine lockenköpfige Cousine - achtzehn Jahre und auch in Ferien hier - in die Wohnung eines ihrer Freunde, ebenfalls in Mondello, der einen Filmclub betreibt. Der Freund ist ziemlich klein, dicklich, trägt ein Batiktuch um den Hals und ein Elefantenhaar-Armband am rechten Handgelenk, seine heisere Stimme klingt ein wenig gekünstelt. Er lässt sich die Filme aus Rom kommen, hat gerade eine neue Lieferung erhalten. Es sind seltene, militante Filme. Er hat die Wohnung seiner Familie ausgeräumt, den Projektor auf einen Hocker gestellt, die Bilder von der Wand gegenüber abgenommen, die Vorhänge mit Klebstreifen an den Wänden befestigt; auf dem Fußboden Kissen oder nichts. Es gibt auch ein paar Stühle und einen Sessel. Als er meinen Kopf sieht, denkt er, das sei mein letzter Sommer: Er bietet mir den Sessel an, bringt mir eine Orangenlimonade und wendet sich an mich mit der Stimme eines Priesters, der einem die Letzte Ölung spendet.
Während meine Cousine sich auf einen Stuhl neben mich setzt, kommen noch mehr Leute. Untereinander nennen sie sich Genossen.
Als alle da sind, stellt sich der Gastgeber in den Lichtkegel des eingeschalteten Projektors. Beim Sprechen bewegt er die Arme und Hände; sein Schatten hinter ihm äfft ihn nach.
Er sagt uns, dass Coatti ein Film des Genossen Stàvros Tornès sei, und als er das sagt, zieht er aus der Tasche seiner Jeans ein kariertes Blatt hervor, auf das er in Druckbuchstaben den Namen geschrieben hat, STÀVROS TORNÈS. Er sagt, Stàvros sei Grieche, habe aber lange in Italien als Schauspieler und Arbeiter gelebt; seinen Film habe er in Rom gedreht und selbst die Hauptrolle gespielt. Es handle sich, sagt er weiter, um eine pointierte, durchlittene Reflexion über unsere Zeit, über Niederlage und Utopie, einen Film, in dem sehr bewusst paradoxe Momente, die den grotesken Niedergang unseres Landes erkennen ließen, abwechselten mit soziologischen Analysen und Momenten scharfer kritischer Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, der Resignation und dem Tod.
Als er »Tod« sagt, sieht er mich an, zögert, das Wort auszusprechen; da berühre ich leicht, wie zufällig, mit einem Finger meine Stirn, gebe ihm dann mit einem Lächeln die Absolution, die Arme bequem auf den Armlehnen, an ein Kissen gelehnt, die Rippe ruhig. Also fährt er fort, der Schatten folgt ihm und macht sich weiter über ihn lustig, bis er leises Lachen um sich herum bemerkt, nicht begreift, aufhört und sagt: »Wir sprechen später über den Film«, hinter den Projektor tritt, das Licht ausmacht und den Film startet.
Man sieht Tornès, der spät wach wird, nicht arbeitet, durch Rom streift, mit seiner Frau redet. Sie verlässt ihn, kommt zurück, dann geht Tornès in eine Bar und trifft einen Freund. Hinten in der Bar sind gedeckte Tische mit Platten aus Formica. Dort sitzen Männer mit Koteletten beim Essen, in engen Rollkragenpullis und mit großen, quadratischen Brillengestellen mit getönten Gläsern, wie sie Mina und Gino Paoli tragen, die ihre Umhängetaschen über die Stühle gehängt haben. Einer sagt zu Tornès, dass er ein Wichser ist, nur an der Ästhetik des Proletariats interessiert, nicht an seiner Ethik. Tornès
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