Die Glasfresser
den Korb hin; Bocca schaut hinein, zieht sich zurück; Scarmiglia schüttelt den Kopf. Ich strecke die Hand aus - die Familie lächelt mir zu, Bocca und Scarmiglia können es nicht glauben; ich spüre die feuchten Maulbeeren, rieche den süß-herben Geruch, ziehe dann die Hand heraus und habe zwischen Zeigefinger und Daumen ein schwarzes Kügelchen. Ich bringe es an die Lippen und schlucke. Ich sage Danke, und die Familie sagt etwas zu mir, das wohl Bitte heißen soll, wendet sich ab und geht auf ein Zelt zu, das aus der Stange eines Sonnenschirms und einem darum herum gespannten Wachstuch besteht.
»Hast du die Maulbeere wirklich genommen?«, fragt Bocca.
»Er hat sie nicht genommen«, sagt Scarmiglia. »Das war sein Daumen.«
Er sieht mich an, mustert mich.
»Er hat sie nicht genommen«, wiederholt er. »Das ekelt ihn alles, er hat sie nicht genommen.«
»Lass sehen«, sagt Bocca zu mir und kommt näher.
»Was willst du denn sehen? Er hat sie nicht genommen, habe ich dir doch schon gesagt.«
Er mustert mich erneut. Er möchte ein Signal, irgendetwas, das seine Unsicherheit beendet, doch ich bleibe still, die Lippen zusammengepresst. Ich muss lachen, doch ich sage nichts, beobachte die wütende Taube, die sich dem in den Sand gestellten
Korb genähert hat, sie will Maulbeeren. Sie bewegt sich ruckartig, wie ein Reptil. Vögel stammen von den Dinosauriern ab. Sie sind unheimlich wie Dinosaurier. Die Form der Beine, die Krallen. Die schwarzen Augen an der Seite des Kopfes. Die Art, wie sie den Kopf bewegen, ruckartig, mit Unterbrechungen. Den Kopf bewegen, fixieren, zerreißen. Die Panik in Existenz verwandeln. Der Kanarienvogel, den wir zu Hause haben - manchmal mache ich die Küche zu, öffne das Türchen des Käfigs und hole ihn heraus, um ihn mir anzusehen -, auch dieser wehrlose Kanarienvogel ist unheimlich. Denn wenn er den Kopf nach hinten hält und das Dunkle in seinen Augen wirbelt, erkennt man sein Erbe. Es ist, als würde man die ursprüngliche Welt in der Hand halten. Also schließe ich die Prähistorie wieder in den Käfig, stelle ihn zurück aufs Küchenregal und gehe mir die Hände waschen.
»Da ist Morana«, sagt Bocca und zeigt Richtung Wasser.
Wir sehen uns zwischen den Körpern um, tun ein paar Schritte nach vorn, dann zur Seite, halten uns die Hand zum Schutz gegen das Sonnenlicht vor.
»Ja, das ist er«, sagt Scarmiglia ohne besondere Regung, beschränkt sich darauf, es festzustellen.
»Kommt, wir sagen ihm guten Tag«, schlägt Bocca vor.
Ich habe keinerlei Lust dazu, Scarmiglia scheint mir auch nicht begeistert, doch wir folgen Bocca, der schon losgegangen ist. Im Weggehen sehe ich, dass die Dialekt-Familie die prähistorische Taube vom Korb wegjagt; sie mischt sich, immer noch wütend, unter die anderen suchenden Tiere.
Morana sitzt allein auf einem Handtuch mit ausgefransten Rändern. Er trägt eine braune Badehose; seine trockene, gräuliche, mit blauen Äderchen überzogene Haut scheint ein einziges Hämatom zu sein. Die feine Masse der schwedisch-norwegisch-finnischen Haare auf seinem Kopf bringt mich auf den Gedanken, dass in seinem Blut ein normannischer Einschlag sein könnte, degeneriert und bis zu ihm heruntergekommen. Er sitzt krumm da, dem Meer zugewandt. Er hat uns nicht bemerkt und macht weiter irgendetwas mit den Fingern im Sand, gräbt etwas ein oder aus, doch
ohne Energie, bewegt die Hände im Schoß, ein wenig darunter, und atmet hörbar, als hätte er eine verstopfte Nase.
Als Bocca ihn begrüßt, erstarrt er in der Haltung von einem, der erwartet, dass man ihm gleich Stockschläge in den Rücken versetzt. Dann wendet er sich um: sein Blick matt, die Lippen verkrustet. Er ist wie die Krüppelkatze, nur ohne Katzenschnupfen. Aber vielleicht hat er den auch. Jedenfalls löst er bei mir wieder einmal neben Widerwillen auch Respekt aus.
Am Anfang scheint es, als würde er uns nicht erkennen.
»Ciao, Morana«, wiederholt Scarmiglia, und diesmal erreicht ihn der Satz, er hört ihn.
»Ciao«, sagt er.
Bocca setzt sich neben ihn, Scarmiglia gegenüber; ich bleibe ein klein wenig hinter ihm, weiß nicht einmal, ob er überhaupt bemerkt hat, dass ich da bin.
Einen wie ihn hat es zu allen Zeiten gegeben. Es gibt ihn und wird ihn immer geben. Verwundbarkeit in ihrer abstoßendsten Form. Jemand, den du verteidigen solltest, doch du weißt, du würdest dir die Finger schmutzig machen, wenn du ihn verteidigst. Also zögerst du, tust so, als würdest du ihn nicht
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