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Die Glasfresser

Titel: Die Glasfresser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giorgio Vasta
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Augenblick, sich nicht zu waschen, es ist auch der Augenblick, sich nicht zu unterhalten.«
    »Das hier ist der Augenblick für nichts«, sage ich.
    »Es ist tatsächlich überhaupt kein Augenblick«, bemerkt sie leise.
    Ich lasse den Kopf hängen. Man hört keine Geräusche, nicht einmal die Autos. Alles ist verschwunden.
    »Jetzt«, sagt sie, »ist das Problem, Verantwortung zu übernehmen.«
    Ich versuche sie anzuschauen, doch es gelingt mir nicht, sie scharf zu sehen.
    »In dem Sinne, dass man versteht, wer woran Schuld hat«, fährt sie fort. »Was durch die Aktion kommt, was beabsichtigt ist, was unbeabsichtigt ist, wie viel vom Zufall abhängt.«
    »Warum sprichst du von Schuld?«, frage ich sie.
    »Worüber soll ich denn sprechen? Heute Nacht ist ein Junge fast gestorben.«
    »Ist er gestorben?«
    »Nein, er ist nicht gestorben. Er hat Verletzungen an Armen und Beinen. Verbrennungen. Die Zeitungen werden übermorgen darüber berichten, die Fernsehnachrichten schon morgen. Später.«
    Ich bleibe eine Weile nach vorn gebeugt, die Ellbogen auf den Knien. Vor allem möchte ich schlafen.
    »Willst du wissen, wer er ist?«
    »Nein«, antworte ich, ohne mich zu bewegen.
    »Besser, an ein unvermeidliches Opfer zu denken? An jemanden, der sowieso verwickelt war?«
    »Das ist es nicht.«
    »Und was ist es dann?«
    »Wir konnten nicht wissen, dass jemand vorbeikommen würde, dass die Zündschnur so langsam brennen würde, dass der Genosse Flug durchdrehen würde. Es ist alles durcheinandergeraten; es ist böse durcheinandergeraten.«
    »War es unmöglich, auch dein Schweigen vorherzusehen?«

    Ich richte mich wieder auf, spüre jeden einzelnen Wirbel meines Rückgrats.
    »Ich habe sie gewarnt.«
    »Du bist stumm geblieben.«
    »Ich habe gesagt, dass es eine Gefahr gibt.«
    »Du bist stumm geblieben.«
    »Ich habe es mehrmals wiederholt, so oft, wie ich konnte.«
    »Nein, Nimbus: nein. Du hast Bewegungen gemacht, die außer Bocca, Scarmiglia und dir niemand versteht.«
    »Ich habe gesprochen.«
    »Das ist kein Sprechen.«
    Ich antworte nicht mehr. Ich spüre erneut, wie sich vom Bauch her die Müdigkeit ausbreitet. Die Stechmücke geht ein paar Zentimeter am Rand des Waschbeckens entlang, bleibt stehen, macht kehrt, wendet sich mir dann wieder zu.
    »Da war«, sagt sie, »eure weiße Zündschnur auf dem Asphalt. Sie brannte, zuerst langsam und dann schnell. Doch es gab noch weitere Zündschnüre. Zeit und Raum beispielsweise. Und die Zündschnur von vier Passanten. Vielleicht kamen sie aus dem Kino. Vielleicht sogar aus dem Fiamma. Oder aus einer Pizzeria. Am Mittwoch ist es leer und man wird sofort bedient. Und da war die Zündschnur der Worte, die zu Ende gehen, da waren einvernehmliche Gesten, dumme Sprüche. Und dann, irgendwann, steht einer auf und sagt: Kommt, wir gehen. Also läuft man ein Stück durch die Via Notarbartolo, dann durch kleinere Straßen - Via Petrarca, Via Leopardi. Noch zweihundert Meter in die eine Richtung, hundert in die andere - man dreht sich um, man redet -, weitere fünfzig Meter, man biegt in die Via Nunzio Morello ein, und da ist ein Mädchen mit offenem Lockenhaar, wie es dir gefällt, das singt ›Figli delle stelle‹, dann verstummt es, weil es am Ende der Straße einen Jungen sieht, der gestikuliert, ohne ein Wort zu sagen; das Mädchen und seine Freunde schauen ihn an, gehen noch ein paar Meter weiter, und der Junge stellt sich auf die Zehenspitzen, breitet die Arme aus und krümmt den Rücken. Die Jungen und Mädchen in der Gruppe finden es seltsam, grotesk,
rufen ihm etwas zu und fragen ihn, was los ist, noch ein Wort, ein Schritt, und dann fegt die Explosion alles weg und löscht es aus, Körper werden gegen Autos und Häuser geschleudert, die Luft wird dichter, und da ist das Feuer, da sind Stimmen, gegenseitiges Zurufen, schrill und laut, dröhnender Lärm und Sirenen.«
    Sie schweigt und fixiert mich, zwingt mich, sie anzusehen.
    »Wie stellt man es an, all das einzukalkulieren, Nimbus?«
    Ich schüttele den Kopf. Ohne Defätismus. Wie um ein Jucken zu verjagen. Ich lege die Hände auf den Rand der Wanne, links und rechts der Beine. Ich stütze mich ab.
    »Man kalkuliert das nicht ein«, sage ich. »Man akzeptiert es.«
    Wie vorhin läuft die Stechmücke auf ihren dünnen Beinchen und mit vibrierendem Stechrüssel konzentriert den Rand des Waschbeckens entlang. Plötzlich, ohne jeden Kommentar, wendet sie sich um und beginnt auf der weißen Keramik nach unten zu gehen. Ich

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