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Die Glasglocke (German Edition)

Die Glasglocke (German Edition)

Titel: Die Glasglocke (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvia Plath
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seinem Schreibtisch eine Fotografie in einem Silberrahmen so stehen, daß sie halb ihm, halb meinem Ledersessel zugewendet war. Ein Familienfoto, auf dem eine schöne, dunkelhaarige Frau zu sehen war, die Doktor Gordons Schwester hätte sein können und über die Köpfe von zwei blonden Kindern hinweglächelte.
    Ich glaube, eines der Kinder war ein Junge und das andere ein Mädchen, aber es können auch zwei Jungen oder zwei Mädchen gewesen sein, bei Kindern läßt sich das schwer erkennen, wenn sie noch klein sind. Ich glaube, es war auch ein Hund mit auf dem Bild, irgendwo unten – eine Art Airdale oder ein Golden Retriever –, aber es kann auch nur das Muster auf dem Rock der Frau gewesen sein.
    Irgendwie machte mich dieses Foto wütend.
    Ich sah nicht ein, warum es halb mir zugewendet stand, es seidenn, Doktor Gordon wollte mir von Anfang an klarmachen, daß er mit einer tollen Frau verheiratet sei und ich mir irgendwelche komischen Gedanken am besten gleich aus dem Kopf schlagen sollte.
    Dann überlegte ich, wie soll mir dieser Doktor Gordon überhaupt helfen, mit so einer schönen Frau und so schönen Kindern und einem so schönen Hund, die ihn wie ein Heiligenschein auf einer Weihnachtspostkarte umschwebten?
    »Wie wäre es, wenn Sie mir mal erzählen, was Ihrer Meinung nach nicht in Ordnung ist?«
    Mißtrauisch drehte und wendete ich die Wörter wie runde, vom Meer geschliffene Kiesel, die womöglich plötzlich eine Kralle ausfuhren und sich in etwas ganz anderes verwandelten.
    Was meiner Meinung nach nicht in Ordnung war?
    Das klang, als wäre in Wirklichkeit alles in Ordnung, als würde ich nur meinen, etwas sei nicht in Ordnung.
    Mit gleichgültiger, ausdrucksloser Stimme – um ihm zu zeigen, daß ich mich von seinem guten Aussehen und seinem Familienfoto nicht betören ließ – erzählte ich Doktor Gordon, daß ich nicht schlafen und nicht essen und nicht lesen könne. Von meiner Handschrift, die mich am meisten beunruhigte, erzählte ich ihm nicht.
    An diesem Morgen hatte ich versucht, Doreen einen Brief nach West Virginia zu schreiben. Ich wollte sie fragen, ob ich zu ihr kommen und bei ihr wohnen und an ihrem College vielleicht eine Stelle bekommen könnte, als Kellnerin oder so.
    Aber als ich den Stift nahm, brachte meine Hand nur große, krakelige Kinderbuchstaben zuwege, und die Zeilen rutschten auf dem Blatt von links nach rechts fast diagonal nach unten, als hätten kleine Bindfadenschlaufen auf dem Papier gelegen und jemand wäre vorbeigekommen und hätte sie schiefgeblasen.
    Ich wußte, daß ich einen solchen Brief nicht abschicken konnte, deshalb riß ich ihn in kleine Stücke und steckte sie in meineHandtasche, neben mein Allzwecketui, falls der Psychiater nach ihnen fragen würde.
    Aber Doktor Gordon fragte natürlich nicht nach ihnen, denn ich hatte ihm ja nichts von ihnen erzählt, statt dessen freute ich mich immer mehr über meine Raffiniertheit. Ich dachte, ich bräuchte ihm nur das zu erzählen, was ich ihm erzählen wollte, und könnte das Bild, das er von mir hatte, kontrollieren, indem ich ihm manches verheimlichte und manches offenbarte, während er sich die ganze Zeit über ungeheuer schlau vorkam.
    Solange ich redete, hielt Doktor Gordon den Kopf gesenkt, als würde er beten, und das einzige Geräusch neben der schleppenden, ausdruckslosen Stimme war das Tapptapptapp, das Doktor Gordons Stift immer an der gleichen Stelle auf der grünen Schreibunterlage machte, wie ein steckengebliebener Spazierstock.
    Als ich mit meiner Erzählung zu Ende war, hob Doktor Gordon den Kopf.
    »Was haben Sie gesagt, auf welches College gehen Sie?«
    Verblüfft sagte ich es ihm. Ich verstand nicht, was das College hier sollte.
    »Ach, ja!« Doktor Gordon lehnte sich zurück und starrte mit versonnenem Lächeln in die Luft über meiner Schulter.
    Ich glaubte schon, er wolle mir nun seine Diagnose mitteilen und ich hätte vielleicht voreilig und zu unfreundlich über ihn geurteilt. Er sagte jedoch nur: »Ich kann mich an Ihr College erinnern. Im Krieg war ich dort. Die Army hatte da oben eine Frauenreserveeinheit stationiert. Oder war es die Navy?«
    Ich sagte, ich wüßte es nicht.
    »Es war die Army, jetzt fällt es mir wieder ein. Ich war als Arzt für den Laden zuständig, bevor ich nach Übersee kam. Da waren ein paar nette Mädchen beisammen.«
    Doktor Gordon lachte.
    Und dann – mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung – erhob er sich und schlenderte um seinen Schreibtisch herum aufmich

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