Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
in seinen Heimatort oder ins Kloster zurückkam, erheblich stieg. Außerdem konnte man sich durch eigene Beiträge und richtiges Stimmverhalten hervortun, ganz abgesehen von den zahlreichen nützlichen Begegnungen. In gewisser Weise waren Konzile wie Jahrmärkte, und ganz so, wie in Bauernfamilien gewetteifert wurde, wer aus der Familie den Vater zum Jahrmarkt begleiten dürfe – natürlich die Lieblinge und Favoriten – und wer zu Hause bleiben müsse, um die Schafe zu hüten, ganz so wetteiferten in den Bistümern, Kirchengemeinden und Orden die Geistlichen um die Gunst ihres »Vaters«. Diejenigen, die in diesem Moment in die Kirche strömten, waren allesamt die Sieger zahlreicher Kämpfe, Ränke und Liebedienereien, und es war nicht anzunehmen, dass sie bei dem Konzil mit ihren Gewohnheiten brechen würden. Wer von ihnen war der Konservativste, der Disziplinierteste, der Aufgeschlossenste, Demütigste, Intelligenteste, Angepassteste, Mutigste, Geschickteste? Wer schrieb den besten Beitrag über das Taufsakrament, über die Reform des Klosterwesens, über die Buße, die Revision des Index, die Liturgie? Wer würde als Erster wagen, den Ablass in Frage zu stellen, die schlechte Ausbildung der Geistlichen anzuprangern, die Übersetzung der Bibel in die Volkssprachen zu fordern?
Bruno, der Trinker und Sünder, erstarrte vor Ehrfurcht, als er die versammelte Geistlichkeit durch die kleine Öffnung im Treppenaufgang betrachtete. Das vielstimmige Messlied, die Orgel, die die Mauern beben ließ, die Gewänder, Kreuze, Kirchenfenster und frommen Gesichter ließen ihn erschauern, so als sähe er Jesus selbst in Begleitung seiner Mutter hereinkommen. Sogar Sandro war vom Getöse und den Farben und dem Weihrauch, der aus zahlreichen Kesseln aufstieg, beeindruckt. Äußerer Pomp war – auch wenn man ihn durchschaute – etwas Machtvolles.
Sandro erinnerte sich an die Kinderzeit, als seine Mutter Elisa ihn immer zur Freitagsmesse mitnahm. Sonntags ging die ganze Familie zum Gottesdienst, aber freitags nur sie und er. Manchmal, wenn sie in ihr Gebet vertieft war, blickte er sie verstohlen von der Seite an, beobachtete, wie sich ihre Lippen bewegten, so als zuckten sie im Halbschlaf, und wie sich ihr Brustkorb unter dem schwarzen massigen Gewand langsam hob und senkte. Er betete sie an. Er betete sie mehr an als die Madonna, und wenn sie ihn lehrte, die Kirche sei heilig und rein, nur die Menschen in der Kirche seien fehlerhaft, so glaubte er ihr das.
»Wie ist es?«, fragte er Bruno. »Erkennst du die Person von neulich Nacht?«
Sandros Frage ging im Getöse fast unter. Et in terra pax hominibus, bonae voluntatis. Und Friede auf Erde den Menschen, die guten Willens sind. Einer unter ihnen war es vielleicht nicht. Einer war womöglich ein Mörder.
Eine unüberschaubare Schar strömte herein, unter den Augen der aus ewigem Stein geformten Kirchenheiligen sowie der Apostel und Bibelgestalten, die in den Fenstern erstrahlten. Sandro entdeckte Luis. Er hätte es nicht schwören können, aber er glaubte, einen leicht selbstzufriedenen Zug in der Miene seines Mitbruders zu sehen, wahrnehmbar nur für denjenigen, der Luis gut kannte. Gewiss hatte der begabte Rhetoriker gestern noch die Rede fertiggestellt, mit der er das Konzil auf seine Linie bringen wollte. Es würde sein großer Auftritt werden, der Höhepunkt seines bisherigen Lebenswegs, und wenngleich Luis selbst nicht darüber sprach, wusste Sandro, dass ihn diese Stunde mit gewaltiger Genugtuung erfüllte – allerdings auch mit gewaltiger Anspannung, die sich jemand wie Luis jedoch niemals anmerken ließ.
Fast zuletzt kamen die hohen Prälaten. Sandro kannte nur wenige von ihnen: Fürstbischof Madruzzo, der als Gastgeber und nicht als Delegierter hier war, sowie Kardinal Innocento del Monte, den Sohn des Papstes, von dessen Wohlergehen in den nächsten Tagen Sandros Zukunft abhing, vielleicht sogar noch mehr. Hinter ihm ging Gaspar de Cespedes, der kommende Großinquisitor von Spanien, dessen Finger der linken Hand auf den Handrücken der rechten Hand klopften, als spielten sie auf einem Instrument, und der in einem fort blinzelte.
Mit den hohen Prälaten war es umgekehrt wie mit den niederen Geistlichen: Die meisten gingen nur ungern zu Konzilen. Es gab wenig für sie, die schon fast ganz oben waren, zu gewinnen. Stattdessen mussten sie lange, beschwerliche Anreisen und verhältnismäßig armselige Unterkünfte hinnehmen. Eine ganze Reihe von Bischöfen war zu Hause
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