Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
worden, vielleicht hatte Gott deswegen seine Frau und seine neugeborenen Kinder sterben lassen.
Er nahm Antonias Hand – sie war rau von der Arbeit – und küsste sie.
Zu seiner Überraschung neigte sie sich ihm zu und küsste ihn auf den Mund. Von sich aus hatte eine Frau das noch nie bei ihm getan, nicht einmal seine Gattin. Antonias Kuss endete nicht, er war lang, so lang, dass er fast keine Luft mehr bekam, und dann tastete sich eine Hand zu seinem Geschlecht.
Seine Verblüffung ließ ihn erstarren. Er stöhnte auf.
»Nicht«, sagte er. »Nicht.«
»Wieso nicht?«, fragte sie und blieb mit ihren Lippen dicht an seinen, sah ihn an, zuckte kurz zusammen.
Dass er ihr das überhaupt erklären musste! »Bevor wir nicht – ich meine, wir sind ja nicht verheiratet.« Ihr Vorstoß war schmeichelhaft, er hätte nicht gedacht, dass sie ihm derart ergeben sein würde. Aber ein wenig erschreckt war er schon. Was war nur aus der kleinen Antonia geworden!
Sie zog sich zurück.
Er sagte: »Bitte, verstehe mich nicht falsch. Ich fand sehr schön, was du gemacht hast, nur … Lass es uns langsamer angehen, ja?« Er hatte den Eindruck, dass sich diese Worte aus dem Mund eines Mannes dumm anhörten, und er war ein bisschen verärgert, dass er dazu gezwungen worden war, sie auszusprechen. Doch der Ärger verflog rasch, als er sah, mit welch schwärmerischem Blick sie ihn ansah, genau so wie damals.
»Schon bald«, sagte er, »wird die Einheit Wirklichkeit.«
Antonias Tagebuch
Ich fühle mich jung. Ich fühle mich schön. Die Vergangenheit ist zurückgekehrt: Ich hänge an seinen Lippen, ich verliere mich in seinen Blaumurmeln. Er ist scheu, und er ist fromm. Berthold ist noch nicht ganz tot. Aber ich werde ihn umbringen. Matthias und ich werden zusammengehören.
Was aber war das für ein Stich, der durch mich hindurchging, als ich ihm tief in die Augen sah. Ein Stich, so als läge etwas in ihm verborgen, das mich verletzen könnte. Ich kann mir nur erklären, dass Matthias etwas Verlorenes gewesen ist, und jetzt, wo ich ihn wiederhabe, würde ich es nicht ertragen, ihn noch einmal zu verlieren.
Tu mir nicht weh, Matthias. Ich bitte dich, tu mir nicht weh.
Dritter Teil
9
11. Oktober 1551,
der erste Tag des Konzils
D er Dom erzitterte. Gloria in excelsis deo . Ein mächtiger Gesang aus einhundert Kehlen füllte das Innere des Gotteshauses bis unter die Kuppel. Gloria in xcelsis deo . Dunkle Stimmen erklangen, wurden von helleren überlagert, Töne kreuzten sich, trennten sich wieder, stiegen auf wie Böen, schwebten, um im nächsten Augenblick zu verklingen, zu vergehen, im Nichts zu verschwinden, immer wieder von Neuem. Und alle priesen Gott. Gloria in excelsis deo . Man pries ihn, man brauchte seinen Segen für dieses heilige Konzil, das über die Zukunft der Christenheit entscheiden würde.
Das Hauptportal öffnete sich, und die leuchtende Soutane des Konzilspräsidenten war zu erkennen. Da setzte machtvoll die Orgel ein, und die Luft vibrierte unter dem vereinten Klang von Chor und Instrument.
Mitten im Treppenaufgang, der zum Chor und weiter zum Glockenturm führte, stand Sandro neben Bruno und verfolgte von dieser erhöhten Position aus das Geschehen. Er hatte Bruno eingeschärft, sich alle Personen ohne Rücksicht auf ihren Rang genau anzusehen und erst dann einen Verdacht zu äußern, wenn er sich absolut sicher war. Nicht auszudenken, wenn Sandro jemanden beschuldigen würde, der nachweislich nicht am Tatort gewesen war. Auf der anderen Seite: Ohne Ergebnis zu bleiben, wäre eine riesige Enttäuschung. Jede weitere Nacht konnte einen weiteren Toten bedeuten. Sandros Erfolg oder Misserfolg hing also von einem Trinker ab, dem seit vier Tagen die trockene Kehle brannte.
Kardinal Marcello Creszenzio, Konzilspräsident und päpstlicher Legat, betrat den Dom. Wie eine Schleppe folgten ihm Priester in Schwarz, Kanoniker, Äbte von überallher – aus Trier, Clermont, Saragossa, Krakau, Pisa und vielen weiteren Klöstern – Bischöfe, Adelige, Mönche, Gelehrte, ein ruhiger, glatter Strom aus Soutanen, der friedlich wirkte, es aber, wie Sandro wusste, nicht war. Im Vorfeld des Konzils – im Vorfeld fast jedes Konzils – brachen bei den rangniederen Geistlichen Kämpfe aus, wer als Delegierter teilnehmen durfte und wer nicht. Delegierter zu sein war Ehre und Chance zugleich. Konzilien wurden von vielen als zweithöchste kirchliche Autorität angesehen, direkt nach dem Papst, weshalb das Ansehen, wenn man
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