Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
Bertani gewesen war? Was, wenn Bruno sich irrte, wenn er log?
Sandro stand auf und ging ein paar Stufen hinauf und wieder herunter, wie ein Raubtier im Käfig. Jeder Fehler bei seinen Ermittlungen konnte üble Folgen haben, doch ein solcher ganz besonders. Man beschuldigte nicht den wichtigsten Delegierten der Protestanten, den Gesandten des Herzogs von Württemberg, und murmelte anschließend, wenn man sich geirrt hatte, einfach eine Entschuldigung. Matthias würde zurückschlagen. Er würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um Sandro unmöglich zu machen. Und ob Madruzzo ihn dann noch unterstützen würde?
Er war allein. Noch nie in seinem Leben war Sandro so allein gewesen. Außer Luis hatte er niemanden, aber Luis hatte er gebeten, sich herauszuhalten.
»Guten Morgen, Bruder Carissimi.«
»Antonia!« In seiner Überraschung, sie hier zu sehen, sprach er sie mit ihrem Vornamen an, so als begegne sie ihm im Gebet.
Sie kam die Treppe wie ein junges Mädchen heraufgelaufen, lässig und natürlich, ein bezauberndes Lächeln auf den Lippen. Ihre langen Haare waren nur notdürftig hochgesteckt, und ihr Kleid flatterte duftig um ihre Arme und Beine. Sie wirkte insgesamt jünger als gestern im Atelier, wo sie ihm verstört und ernst vorgekommen war.
Sie neigte ihren Kopf vorwitzig zur Seite. »Jemand hat mir einen Passierschein für das Konzil besorgt. Jemand mit Beziehungen. Ich hoffe, Ihr werdet mich deswegen nicht verhaften.«
»Kommt ans Fenster, an dieses hier, da sieht man besonders gut.«
Als sie ihren Blick über den Kirchenraum schweifen ließ, beobachtete er ihr Profil.
»Sucht Ihr von hier oben nach dem Mörder?«, fragte sie.
»Vielleicht habe ich ihn schon gefunden.«
»So schnell? Das ist ein großer Erfolg für Euch, Bruder Carissimi.«
Das Lob tat ihm gut, auch wenn es verfrüht war. Er hatte noch keinen Mörder gefunden, sondern einen Verdächtigen, und den hatte er noch nicht einmal verhört, ja, noch nicht einmal den Entschluss dazu gefasst. Er hatte gar nichts, außer seine Unsicherheit. Für den Moment jedoch wollte er den Erfolg als Tatsache ansehen.
»Steht der Mörder dort unten?«, fragte sie. In ihrer Stimme hielten sich Neugier und Betroffenheit die Waage.
»Ja, der Verdächtige ist unter den Delegierten«, bestätigte er.
»Unfassbar! Wenn ich mir das vorstelle – eine solche Tat – begangen von einem ganz normalen Menschen, einem, den man auf der Straße grüßt.«
»Das Böse kommt allzu oft in unscheinbarer Gestalt daher.« Er hörte sich, fand er, schon wie ein Inquisitor an, was ihn ärgerte.
Sie rief: »Seht! Matthias Hagen betritt das Podium.«
Über Antonias Schulter hinweg sah Sandro, wie sein Halbbruder durch die Menge der Delegierten ging. Sein Schritt war wie üblich sehr präzise und geradezu zeremoniell, man hatte bei diesem Schritt immer den Eindruck, Matthias besteige einen Thron.
»Ihr kennt ihn?«, fragte er erstaunt.
»Er ist mein … Ich kenne ihn aus meinen Ulmer Tagen, da war er so etwas wie mein Beschützer, und später … Er ist der Grund, weshalb ich in den Dom gekommen bin. Ich möchte seine Rede hören.«
Ohnmächtig stand Sandro im Dämmerlicht des Treppenaufgangs, während Antonia gespannt der Rede lauschte. Eine beachtliche Rede, wie Sandro sich widerwillig eingestehen musste. Matthias malte mit Worten die Vision einer Wiedervereinigung in den Dom. Orden könnten wiedererstehen, sagte er, neue Klöster würden allenthalben aus dem Boden sprießen, die alten Klöster würden rehabilitiert, geflüchtete Prälaten dürften zurückkehren, die Zehntsteuer würde wieder fließen, Millionen und Millionen in den Schoß der Römischen Kirche zurückkehren, die Konfessionskriege enden, die Glocken wieder gemeinsam läuten, die Gebete gemeinsam gesprochen, die Zwietracht Vergangenheit sein … Kurz, rund dreieinhalb Jahrzehnte nach Luthers Thesenanschlag zu Wittenberg könnte die Reformation ihr Ende finden.
Diese Aussicht war zu verlockend, um ihr nicht zu erliegen. Matthias’ Rede wurde immer wieder von überraschtem Gemurmel unterbrochen, ja, bisweilen gab es sogar begeisterte Zwischenrufe. Die übrigen protestantischen Delegierten – die Gesandten Sachsens und Brandenburgs – verhielten sich still, so dass man davon ausgehen konnte, dass Matthias auch in ihrem Namen sprach.
Als Matthias das Paradies einer Gesamtkirche lange genug schmackhaft gemacht hatte, um auch sachliche Gemüter dafür zu erwärmen, gab er einen bitteren Tropfen hinzu.
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