Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
Die wichtigste Forderung der Protestanten sei die Residenzpflicht für Bischöfe, denn die Residenz eines Bischofs sei kein Zufall, sondern von Gott bestimmt. Was er damit meinte, war, dass Bischöfe künftig dazu gezwungen werden sollten, in ihrer Diözese zu bleiben, um dort seelsorgerische Arbeit zu leisten und nicht mehr wie bisher – mit Erlaubnis des Papstes – jahrelang herumzureisen und es sich in Rom, Paris oder Köln gutgehen zu lassen. Auch ein Anhäufen mehrerer Bischofstitel und der damit verbundenen Einkünfte wäre dann nicht mehr möglich.
Für die Dauer von drei Glockenschlägen raunten die Delegierten, einige standen schimpfend auf, aber schließlich überwog der Applaus. Man war erleichtert, hatte man doch mit einer Kanonade von Forderungen gerechnet, die den endgültigen Bruch zur Folge gehabt hätte. Und nun das: Die Residenzpflicht, das war alles. Das war ein wichtiger Punkt, aber verglichen mit den Möglichkeiten, die eine Wiedervereinigung böte... Vor allem die Kanoniker und Ordensgeistlichen, die ohnehin nicht wie die Prälaten herumreisen durften, waren begeistert. Die Protestanten, die als Feinde gekommen waren, galten mit einem Mal als Verhandlungspartner, ein Umschwung in den Köpfen vieler Delegierter, der noch vor einer Stunde ausgeschlossen schien. Matthias hatte das Menschenmögliche erreicht, mehr noch, er hatte ein kleines Wunder geschafft, und während er das Podium verließ, gab es nicht wenige, die ihm anerkennend oder dankbar zunickten. Selbst Luis nickte anerkennend, wenn auch zurückhaltend.
»Er war erfolgreich, nicht wahr, Bruder Carissimi?«, fragte Antonia leise. Sie klang ein bisschen wie ein kleines Kind, das jemanden bewunderte.
Sandro biss die Zähne zusammen. »Ja«, sagte er.
Sie sah ihn an, ihn, Sandro, und er glaubte, von ihr durchschaut zu werden, während er nicht in der Lage war, in ihren Gedanken zu lesen.
»Ich werde jetzt gehen«, sagte sie. »Danke, dass ich am Fenster stehen durfte. Ihr wart sehr freundlich.«
Als sie die Stufen hinunterging und aus seinem Blickfeld verschwand, machte er eine stumme, ohnmächtige Geste mit seinen Händen, die er schließlich zu Fäusten ballte und damit gegen das Mauerwerk schlug. Er ließ seinen Kopf an die Wand sinken, schloss die Augen und betete, wobei er wusste, dass das, wofür er betete, nicht in Gottes Sinn war. Mit dem linken Ärmel der Kutte fuhr er sich über die Augen, so als wische er Tränen weg, und vergrub sein Gesicht in der Armbeuge. Seine Gedanken schienen ihm plötzlich etwas zu sein, auf das er keinen Einfluss mehr hatte. In seinem Innern entfesselte sich etwas.
Stimmengemurmel verriet ihm, dass die erste Konzilssitzung für eine Pause unterbrochen worden war. Natürlich redeten jetzt alle über die Worte von Matthias.
Matthias, Matthias, Matthias. Er war überall. Luis zollte ihm Respekt, die Delegierten beklatschten ihn, Antonia Bender himmelte ihn an. Man kam nicht an ihm vorbei. Er verstand es, sich in das Leben der Menschen zu stehlen, sei es als Chance oder als Hindernis. Für Sandro war er immer nur ein Hindernis gewesen.
Gleich bei Matthias’ erster Begegnung mit Elisa Carissimi nannte er sie immerzu Elise und nahm Sandro damit ein Stück seiner Mutter weg, nur ganz wenig zuerst, einen kleinen Buchstaben, den er austauschte. Noch begriff Sandro nicht, dass er sie fortan mit einem Fremden teilen musste, der aus einer anderen Welt und Zeit kam. Matthias betrat mit seinem Zeremonienschritt und seinen Erinnerungen und Erfahrungen den Palazzo der Carissimi und zerstörte das Bild, das Sandro stets von seiner Mutter gehabt hatte, das Bild, der einzige Mann in ihrem Herzen zu sein, die Vorstellung, diese Mutter gehöre nur ihm und ein kleines bisschen auch seinen Schwestern.
Alles in allem verhielt Matthias sich anfangs angemessen. Er stellte Fragen, die Sandro auch gestellt hätte, wenn seine Mutter ihn verlassen hätte, Fragen nach dem Grund. Warum hast du mir nie geschrieben, warum hast du dich nie verabschiedet, warum hast du mich im Stich gelassen? Elisa war zu eingeschüchtert vom plötzlichen Auftauchen ihrer Vergangenheit, als dass sie darauf Antworten gefunden hätte. Sie saß verkrampft auf ihrem Sessel, hielt sich an ihm fest, wagte nicht, ihre anderen Kinder anzusehen. Die Halbsätze, mit denen sie sich zu rechtfertigen versuchte, waren verworren, und schließlich erlitt sie einen Schwächeanfall. Matthias wollte zuerst nicht das Haus verlassen, aber als Sandro ihn am Arm
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