Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
beides. Sie liebte Hieronymus und die Verheißung des Glücks ebenso sehr wie die Verheißung der Rache.
Vielleicht, dachte sie in diesem Moment, vielleicht kann ich beides haben.
Sie hatte in der vergangenen Nacht einen Geheimgang entdeckt, der vom Keller des verfallenen Palazzos, in dem sie wohnte, in ein Labyrinth von anderen unterirdischen Gängen führte. Diese Entdeckung war kein Zufall gewesen, sie hatte damit gerechnet. Bevor sie sich damals – vier Wochen vor Eröffnung des Konzils – bemühte, ein Zimmer in dem verfallenen Palazzo Rosato zu bekommen, hatte sie viel recherchiert, um herauszufinden, wo in Trient die Vergnügungshäuser gewesen waren, bevor die Fürstbischöfe sie hatten schließen lassen. Natürlich war sie diskret vorgegangen, hatte sich ein wenig verkleidet und Betrunkene in den Schänken befragt, Menschen, die keinen Verdacht schöpfen und sich sowieso nie an sie erinnern würden. Immer wieder war ihr der alte Palazzo genannt worden – Palazzo Rosato, der rosa Palast, obwohl er blau gestrichen war. Als sie ihn in Augenschein genommen hatte, war ihr Hieronymus begegnet, der dort sein Atelier hatte. Da hatte sie plötzlich zwei Gründe gehabt, sich um ein Zimmer im Palazzo zu bemühen. Der eine Grund war die Nähe zu dem Mann, für den sie vom ersten Moment an eine große Zuneigung gespürt hatte, und der zweite Grund war die Suche nach einem Geheimgang gewesen, denn Vergnügungshäuser und Geheimgänge gehörten ganz natürlich zusammen so wie Küchen und Kochtöpfe. Im Keller des Palazzos, im hintersten, finstersten, von Gerümpel verstellten Winkel war sie fündig geworden. Wenig überrascht stellte sie fest, dass es ein Gewirr von Gängen gab und dass fast jeder vornehme Hausherr Trients sich vor etlichen Generationen in seinem Schlafzimmer eine diskrete Möglichkeit hatte einbauen lassen, in das Hurenhaus zu kommen. Carlotta war beinahe bis in die Morgenstunden zwischen Spinnweben, Schimmel und Pfützen herumgeirrt, bis sie einen Zugang zu dem Quartier gefunden hatte, in dem Innocento derzeit wohnte.
»Carlotta«, sagte Hieronymus plötzlich, »ich war stets ehrlich zu dir. Manches habe ich nicht ausgesprochen, weil wir beide wussten, dass es nicht nötig war. Mir ist nicht verborgen geblieben, wie du dein Geld verdienst, und ich hatte bisher auch nichts dagegen, nur … Ich möchte dich für mich haben, Carlotta.«
»Ich bin gerne mit dir zusammen«, sagte sie, und ihr fiel auf, dass es überhaupt nur zwei Menschen gab, mit denen sie gerne zusammen war, Hieronymus und Antonia. Nicht einmal mit Inés war sie gerne zusammen, eine Erkenntnis, die ihr sofort ein schlechtes Gewissen bereitete.
»Wir sind nicht zufällig so weit aus der Stadt gelaufen«, sagte Hieronymus. »Ich wollte einen schönen Fleck finden, um dir etwas Wichtiges zu sagen. Carlotta, willst du …«
»Scht«, machte sie und legte ihm ihren Finger auf die Lippen. »Nicht jetzt, Hieronymus.«
»Worauf warten wir?«
»Hab Geduld mit mir.«
»Du erzählst mir zu wenig, um Geduld zu haben. Wie bist du Konkubine geworden? Wieso hast du es nicht eilig, damit aufzuhören? Gibt es da jemanden, der dir vielversprechende Offerten macht? Liebst du einen deiner Freier? Oder wird dir von einem gedroht? Wenn dich einer schlägt, werde ich …«
»Bitte, Hieronymus, wieso zerstörst du uns den Tag?«
»Um uns die zukünftigen Tage zu erhalten, Carlotta. Wie lange wirst du noch in Trient bleiben? Das Konzil dauert nicht ewig, es kann jeden Tag mit einem Eklat enden oder vom Papst aufgelöst werden. Und was dann? Dann sind die Kunden weg. Was würdest du tun, Carlotta? Würdest du in einem solchen Fall bei mir bleiben, oder würdest du zurück nach Rom gehen?«
Sie zögerte mit der Antwort, aber nicht, um sich eine Lüge auszudenken, sondern um die Wahrheit zu entdecken. »Es gäbe nichts Schlimmeres für mich, als dich zu verlieren, Hieronymus.« Allein der Gedanke daran tat ihr weh.
Er atmete tief ein, schließlich nickte er. »Dann soll es auch nicht passieren, Carlotta. Bei allem, was mir heilig ist, wir bleiben zusammen. Ich werde Geduld haben. Ich werde warten. Obwohl ich nicht verstehe, worauf.«
Er küsste sie, verborgen hinter seinem Hut, obwohl kein Mensch in der Nähe war, der sie hätte beobachten können. So war er, so war Hieronymus: Einerseits liebte er eine Hure, andererseits war er schüchtern.
»Gib mir bitte ein kleines, kleines Stück der Wahrheit«, flüsterte er flehend. Sie waren sich so nahe, das
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