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Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin

Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin

Titel: Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Walz
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Hinterhalt, aber falls Hagen ihn überzeugen kann … Wohin gehst du denn? Sandro? Was ist los? Wohin gehst du? Sandro!«
    Sandro achtete nicht auf die Rufe, er hörte sie nicht, er hörte gar nichts mehr. Es gab nur noch ihn und Matthias, so wie damals in der kleinen Kapelle auf der anderen Straßenseite, wo sie sich unter den aufgeregten Schreien ihrer Mutter geprügelt hatten. Sandro hatte an jenem Tag verloren. Als er aufgewacht war, hatte seine Mutter sich über ihn gebeugt und ihm mit einem Tuch, das sie in das Weihbecken getaucht hatte, das Blut von der Nase getupft.
    »Wache!«, rief er.
    Hauptmann Forli war ein einschüchternder Mann mit tiefliegenden Augen so dunkel wie ein Kohleschacht, und trotz sorgfältiger Rasur waren Kinn und Wangen von einem schwarzen Schatten bedeckt. Die kurzen Kopfhaare standen wie Stacheln ab.
    »Was ist, Vater?«, fragte er, und in seiner Stimme lag der ganze Widerwillen, von einem schmalen Mönchlein, das fast halb so alt war wie er, Befehle entgegennehmen zu müssen.
    »Dieser Mann dort«, sagte Sandro und deutete auf Matthias. »Er heißt Matthias Hagen.«
    »Und?«
    »Ich möchte, dass er verhaftet wird. Sofort.«
    Hauptmann Forli stellte keine Fragen und gab den vier Soldaten, die er vor dem Dom postiert hatte, ein Zeichen. Das Klappern ihrer leichten Brustpanzer und Helme folgte Sandro, ebenso wie die verwunderten Blicke der Geistlichen. Jetzt gab es kein Zurück mehr, und seltsamerweise fiel Sandro in diesem Augenblick ein, dass er irgendwo gelesen hatte, dass so die Hölle aussieht: ein Ort ohne Ausgang.
    Forli legte seine behaarte Hand auf Matthias’ Schulter. »Matthias Hagen. Auf Befehl des Visitators Seiner Heiligkeit seid Ihr hiermit verhaftet.«
    Sandro ballte seine Fäuste.
     
    Carlotta zuckte zusammen, als ihr unerwartet etwas durch die Brust direkt ins Herz fuhr. Es war ein wunderschöner Morgen, und sie befand sich mit Hieronymus auf einem Spaziergang irgendwo auf den Wiesen zwischen der Etsch und den Bergen, wo die Abhänge dekoriert waren von herbstfarbenen Rebstöcken, aufgereiht wie Garderegimenter. Die Sonne hatte den Aufstieg über die östlichen Berge geschafft; sie brachte das Tal zum Leuchten, als sei es eben erst erschaffen worden. Man war noch im Paradies, es gab kein Leid und keine Sünde auf der Welt, keine Qual und keinen Tod.
    Ein paar Atemzüge lang war Carlotta vollkommen glücklich. Glück: Dieses Gefühl war für sie wie ein vertrauter Mensch, der viele Jahre lang auf Wanderschaft gewesen war und an dessen Rückkehr niemand mehr geglaubt hatte. Es war verändert, dieses Glück, es war alt geworden, aber selbst nach so langer Zeit erkannte Carlotta es wieder. Sie blieb stehen, griff sich ans Herz.
    »Was ist?«, fragte Hieronymus. »Geht es dir nicht gut?«
    »Im Gegenteil«, sagte sie, und sie gingen weiter.
    Das Glück lief neben ihr, sie hatte sich bei ihm untergehakt und ging mit ihm unter Kastanienbäumen spazieren. Geborgenheit, Verständnis, Zärtlichkeit, alles das waren Synonyme für das Glück, und Hieronymus legte es ihr zu Füßen. Es war alles, was er hatte, mehr besaß er nicht. Er war kein leidenschaftlicher Liebhaber, er fasste sie immer an, als könne sie ihm in den Händen zerbrechen wie Glas. Er war auch nicht reich, ja, er konnte nicht einmal sicher sein, dass er in zwei, drei Jahren noch arbeiten würde. Hieronymus’ Arm war warm und fest, in seinem manchmal holprigen Schritt jedoch waren bereits die Auswirkungen des Alters erkennbar. Und trotzdem fühlte sie sich in seiner Nähe sicher. Hieronymus schlug sie nicht wie Bertani, er sah nicht auf sie herab, wie die meisten der edlen, wohlhabenden Kunden mit den dunkelgrauen Seelen. Hieronymus liebte sie.
    Und sie? In ihrer Vorstellung – abends, wenn sie allein, nur mit Inés, ins Bett ging – sah sie sich mit Hieronymus unter einem Baum mit weit ausladenden Ästen sitzen, besprenkelt mit Lichtflecken, während es gelbes Laub regnete, das in ihre Schöße fiel. Dann schlief sie gut ein.
    War das Liebe? Liebte man jemanden, weil er einen glücklich machte? Wieso konnte sie sich dann nicht ganz auf Hieronymus einlassen? Wieso schaffte sie es nicht, an ihn zu denken, wenn sie mitten in der Nacht ein zweites Mal einzuschlafen versuchte, nachdem Inés sie stöhnend und mit den Armen fuchtelnd aufgeweckt hatte? Oder wenn sie bei einem Kunden war? Hieronymus war die Chance auf ein neues Leben. Aber irgendetwas zog sie immer wieder von ihm weg. Und das Schlimme war: Sie genoss

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