Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
ihre Nasenspitzen sich berührten. »Zeig mir, dass du mir vertraust. Ich bitte dich, sag mir, wer die junge Frau in deinem Quartier ist.«
10
Die Tür öffnete sich knarrend und gab den Blick auf das gleiche, trostlose Bild wie immer frei. Inés’ linke Hand war blau und rot unterlaufen. In der Nacht hatte sie wieder wild gestikuliert und die Hand mit voller Wucht gegen die Bettkante geschlagen. Doch sie schien keinen Schmerz zu spüren. Die Fähigkeit ihres Körpers zu leiden, richtete sich voll und ganz auf das, was sie erlebt hatte, auf die Vergangenheit. Gegenwärtiger Schmerz fand keinen Ausdruck.
»Das ist sie«, wisperte Carlotta. »Das ist Inés.«
»Sie sieht harmlos aus«, sagte Hieronymus. »Sie sieht aus wie ein Opfer. Ich hatte sie mir anders vorgestellt, nach dem, was Antonia mir erzählt hat.«
»Antonia hat wohl unwissentlich eine falsche Bewegung gemacht.«
»Sie hätte nicht einfach dein Quartier betreten dürfen. Manchmal geht die Neugier mit ihr durch. Sei ihr deswegen nicht böse.«
»Ich bin es, die sich entschuldigen muss. Ihr seid wie eine Familie für mich. Ich hätte euch von Inés erzählen sollen. Bleib stehen. Komm ihr lieber nicht zu nah, sie mag Fremde nicht, vor allem, wenn sie sie berühren.«
Hieronymus stand mitten im Raum, zwei Armeslängen von Inés entfernt, und Carlotta sah, wie seine Augen sich mit Mitleid füllten.
»Was ist mit ihr geschehen?«, fragte er, wobei ihm die Worte über die Lippen kamen, als seien sie mit Blei beschwert.
In diesem Moment gab es für Carlotta keinen Zweifel mehr, dass sie Hieronymus liebte. Er war ein guter Mann, und vielleicht würde ihm das Wunder gelingen, das Dunkel, das Carlotta durchdrang, zu vertreiben. Wenn es jemand verdient hatte, die Geschichte zu erfahren, dann war es dieser Mann, dessen Herz groß genug dafür war. Carlotta war bereit, ihm alles zu erzählen, ihm zu beichten und Erlösung bei ihm zu finden, doch alle Worte, die ihr einfielen, waren Lügen. Die Rache hatte sich in ihr eingenistet. Hieronymus die Wahrheit zu sagen, hätte den Verzicht auf ihre Rache bedeutet, denn Gefühle, die so schlecht waren, konnten nicht überleben, sobald man sie mit einem guten Menschen teilte. Sie wollte weder Hieronymus noch ihre Rache aufgeben. Sie wollte beides.
»Inés ist die Tochter einer Cousine«, log sie. »Ihre Eltern sind auf tragische Weise ums Leben gekommen, daraufhin hat sich der Geist von Inés getrübt. Seither kümmere ich mich um die Arme.«
»Braucht sie viel Pflege?«
»Ja und nein«, antwortete sie, diesmal wahrheitsgemäß. »Sie kann sich selbst anziehen, selbst essen und trinken, aber ich muss ihr alles hinstellen, und sie spricht nie ein Wort oder zeigt eine sonstige Reaktion auf das, was man sagt.«
»Wieso hast du mir nicht gleich von ihr erzählt?«
»Die meisten Leute wollen nichts mehr mit mir zu tun haben, wenn sie Inés sehen. Sie glauben, es sei ansteckend oder so etwas.«
Hieronymus nahm Carlottas Hand und drückte sie an seine raue Wange. »Jetzt, wo ich die Wahrheit kenne, bist du mir doppelt lieb. Du hattest Angst, ich könnte dich verlassen, nur weil du die Güte hast, eine Waise aufzuziehen? Du Dummchen! Unter deiner üppigen Frisur, der starken Schminke und den aufreizenden Gewändern verbirgt sich ein grundanständiger, warmherziger und mitfühlender Mensch. Und darum liebe ich dich.«
Aaron widmete sich zwei seiner Lieblingsbeschäftigungen auf einmal: Er aß Schmalzgebäck und drückte gleichzeitig sein Ohr an die Tür, um zu verstehen, was im Amtsraum des Visitators vorging. Die Unterhaltung dort drin erinnerte ihn an das Aufeinandertreffen zweier Klingen: von eisiger Schärfe und gleichzeitig Funken sprühend.
Er war hungrig und neugierig, und dies sehr oft. Wann immer man ihm das vorwarf, wuchs er um eine Handbreit, straffte die Schultern und sagte: »Danke sehr.« Denn ohne Gebäck wäre die Welt ein Höllental. Ohne Neugier würde er nicht klüger, und er liebte es, anderen weit voraus zu sein – wobei er darauf achtete, es nur solche Leute merken zu lassen, die es verdienten. Blasierte Leute, dumme, blasierte Leute, die in ihm bloß einen dicken jüdischen Jungen sahen. Er sprach, las und verstand drei Sprachen – Italienisch, Französisch und Hebräisch -, rechnete schneller als jeder Zöllner und hatte trotz seiner lediglich fünfzehn Lenze bereits mit zwei siebzehnjährigen Frauen geschlafen (natürlich nicht gleichzeitig). Seinem Onkel, dem Arzt, ging er ebenso zur
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