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Die Glücksparade

Die Glücksparade

Titel: Die Glücksparade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Martin Widmann
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fragte er unvermittelt. Ich sagte, sie sei wahrscheinlich drinnen. Mein Vater nickte, er schien nichts anderes erwartet zu haben. «Hat sie etwas gesagt, vorhin?»
    «Nein», antwortete ich. «Wieso denn?» Er zögerte, ehe er sagte: «Sie wirkte skeptisch, irgendwie. Wenn du verstehst, was ich meine.»
    Ich dachte, dass es sehr leicht war, das zu verstehen, schließlich hatte meine Mutter von Anfang an nicht hierhergewollt, und natürlich dachte ich wieder daran, dass er uns nicht die Wahrheit über seine Fahrt nach Holland gesagt hatte. Das Seltsame war, dass es mir vorkam, als hätte er nur meiner Mutter etwas vorgemacht und nicht mir, weil ich selbst inzwischen Bescheid wusste, obwohl er das nicht ahnen konnte.
    «Ich bin froh, wenn das hier über die Bühne gegangen ist», sagte er und rieb sich die Hände. «Aber wir liegen gut in der Zeit, wir können es schaffen, bevor es dunkel wird. Das ist die Hauptsache.»
     
    Das Geräusch der Motoren verstummte gegen fünf. Meine Mutter hatte mir den Platz in der Küche überlassen, dort saß ich mit einem Becher Tee, einem Schulbuch und einem Heft, in das ich die Antworten zu drei Fragen zum politischen System der Bundesrepublik schreiben sollte, doch ich war nicht richtig bei der Sache, weil ich an die Kirmeswagen draußen dachte, und irgendwann begann ich, mit dem Kugelschreiber eine Schießbude zu zeichnen. Sie gelang mir so gut, dass ich in der nächsten Stunde nichts anderes tat, als das Bild zu verbessern, indem ich die Stellen und Flächen, die dunkel sein sollten, vorsichtig schraffierte und in die geöffnete Klappe eine richtige Saloon-Einrichtung zeichnete, mit einem großen Spiegel und Flaschenregalen. Außerdem setzte ich ein Giebeldach darauf und umgab es mit einer Balustrade aus gedrechselten Pfosten, die aussahen wie kleine Sanduhren in einer Reihe.
    Draußen war es dunkel geworden. Ich schaltete das Licht an und betrachtete das Bild. Mir gefiel die Idee von einem Jahrmarktwagen, an dem man statt auf Scheiben oder Plastikblumen auf Flaschen in einem Regal schießen konnte. Ich nahm ein Küchenmesser und trennte die Seite aus dem Heft, und gleichzeitig hörte ich ein schabendes Geräusch außen am Container. Durchs Fenster konnte ich meinen Vater sehen, der oben auf der Treppe saß, direkt unter dem Bewegungsmelder, den er dort angebracht hatte. Den Rücken an unsere Tür gelehnt, kratzte er die Sohlen seiner Schuhe an einer Stufe ab. Dann zog er die Schuhe aus und schlug sie vier- oder fünfmal gegeneinander. Um die Klinke herunterzudrücken, hätte ich nur den Arm ausstrecken müssen.

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    [22]
    Wahrscheinlich erkältete ich mich, als ich in den letzten Novembertagen, die noch einmal klar und sonnig waren, auf das Dach eines der Schaustellerwagen kletterte und von dort oben auf den Platz schaute. Es war der Wagen mit dem Lichtmast, und ich war daraufgestiegen, weil er vier Trittsprossen hatte und links und rechts davon zwei Haltegriffe. Erst das hatte mich auf die Idee gebracht. Ich hielt mich fest, bis ich beide Knie auf das Dach gesetzt hatte, neben die bunten Lampen. Aus der Nähe wirkten sie rußig und trüb wie eine blinde Fensterscheibe.
    Ich stellte mich hin und schaute in alle Richtungen, über den Fluss und über den toten Arm zu den Obstwiesen, über die Wagen der Nachbarn und unseren eigenen und den Parkplatz. Auf dem Dach des Hängers von Lorna konnte ich einen grünen Plastikkanister erkennen. Aus einer solchen Höhe hatte ich die Umgebung noch nie gesehen, und ich wünschte mir, eine Kamera zu haben, um ein paar Bilder machen zu können. Es war eigentlich nicht sehr hoch, aber alles sah anders aus, wie aus einem Modellbaukasten. Ich konnte spüren, dass das Metall kalt war, doch ich hielt es trotzdem fast eine Stunde so aus. Während ich dort hockte, überlegte ich, Erik eine Nachricht zu schicken, um zu fragen, wo er jetzt war, ob er weiter in dieser Klinik steckte oder sogar in Bayern.
    Noch am Abend merkte ich, dass mein Rachen sich wund anfühlte. Ich fand es unangenehm zu schlucken, und ich aß wenig. Nachts fror ich zunächst, und als ich aufwachte, lang bevor es hell wurde, schwitzte ich. Mein Hals war entzündet, meine Stirn warm. Am Mittwoch ging ich nicht in die Schule, wie auch am folgenden Tag nicht, sondern blieb im Bett liegen und nahm, nachdem mein Vater zur Apotheke gefahren war, jede Stunde dickflüssigen Saft, den ich mir aus der Kappe der kleinen braunen Flasche auf die Zunge kippte und dort eine

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