Die Glut des Bösen: Kriminalroman (German Edition)
mitbekommen?« Grieser griff in die Innentasche seiner Lederjacke und zog sein Notizbuch heraus.
»Das haben alle mitbekommen, die damals an der Schule waren«, erwiderte sie. Ihr Gesicht blieb ausdruckslos, als sieweitersprach. »Alle Personen des Lehrkörpers, auch alle Schülerinnen und Schüler.«
»Auch Schwester Lioba?«, warf Grieser ein.
»Auch Schwester Lioba«, antwortete die Äbtissin. Sie zog sich mit beiden Händen an den Armlehnen des Ledersessels hoch. Sie musterte Grieser nachdenklich. Dann trat sie zur Seite und ging zu dem langgestreckten Fenster, das an der Wand neben ihrem Schreibtisch auf den Schulhof wies. Sie blieb vor dem Fenster stehen und schwieg. Grieser beobachtete sie. Schwester Orlanda verharrte einige Zeit regungslos. Die Stille wurde lediglich in regelmäßigen Abständen vom leisen Piepsen eines Handys unterbrochen. Dann kehrte Schwester Orlanda zu ihrem Sessel zurück.
»Pater Benedikt war damals ein Kollege von mir«, begann sie. »Er war einige Jahre älter als ich, muss etwa um die fünfzig gewesen sein. Bruder Benedikt war sozusagen eine Leihgabe eines befreundeten Männerklosters. Er war ein begnadeter Biologielehrer, den die damalige Rektorin, Schwester Regina, händeringend gesucht hatte. Er war seit zwei Jahren in Altdorf und unterrichtete in der Oberstufe Biologie und Chemie. Pater Benedikt war außerdem ein begeisterter Anhänger Hildegards von Bingen. Die Rektorin war froh, einen so guten Lehrer zu haben, der in seiner Freizeit auch noch eine AG zu Hildegard von Bingen anbot.«
»AG?«, unterbrach Grieser sie.
»Arbeitsgruppe«, erwiderte die Äbtissin. »Er war ein charismatischer Lehrer, die Kinder mochten ihn. Und die Schülerinnen und Schüler dieser AG waren geradezu begeistert von ihm.«
»Kann es sein«, fragte Grieser vorsichtig, »dass Pater Benedikt irgendwann die Grenze überschritten hat?«
»Sie meinen sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen?«, erwiderte Schwester Orlanda mit schneidender Stimme. IhreHände ruhten regungslos auf den Armlehnen. Lediglich die gerunzelte Stirn brachte ihr Missfallen zum Ausdruck.
»Nein, das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte sie dann mit ausdrucksloser Stimme. »Es muss einen anderen Grund für diese Tat gegeben haben.«
Grieser dachte daran, was Rührig von der Kastration erzählt hatte.
»Was glauben Sie?«, fragte er.
»Keine Ahnung«, sagte sie knapp. »Die Polizei damals konnte nichts ausfindig machen. Warum glauben Sie, dass der Selbstmord etwas mit dem Mord an Miriam Schürmann zu tun hat?«
Grieser fiel ein, dass auch die Tote eine Schülerin der Äbtissin gewesen sein musste. Wie drei weitere Bewohner des Gästehauses im Kloster Rupertsberg.
»Wie war Miriam Schürmann? Sie haben sie doch auch unterrichtet.«
Schwester Orlanda schwieg. Dann machte sie eine schnelle Handbewegung, als wolle sie ein Staubkorn von der Armlehne des Sessels wischen. »Sie war beliebt – bei ihren Mitschülern und auch bei den Lehrern.«
»Auch bei den Frauen?«, fragte Grieser.
»Auch bei den Frauen«, bestätigte Schwester Orlanda. »Fragen Sie Schwester Lioba. Sie war damals eng mit ihr befreundet. Sie nahmen beide an der Hildegard-AG von Pater Benedikt teil.«
»Vermutlich gemeinsam mit Markus Hertl, Thomas Kern und Josef Windisch.«
Schwester Orlanda nickte.
»Pater Benedikt hat sie damals alle begeistert. Schwester Lioba ist deshalb später nach Bingerbrück gegangen, in den Konvent vom Rupertsberg. Markus Hertl ist einer der besten Hildegard-Kenner geworden, die es heute gibt. JosefWindisch könnte in einigen Jahren Bischof werden. Auch Miriam wollte in den Orden eintreten. Allerdings hat sie sich letztlich dagegen entschieden.«
»Wissen Sie warum?«, fragte Grieser.
»Nein. Das Leben als Ordensfrau ist eine schwere Entscheidung. Nicht jeder ist für das Leben in der Gemeinschaft geschaffen.«
Grieser nickte. »Thomas Kern war gestern hier«, sagte er.
»Das war er.« Plötzlich klang Schwester Orlandas Stimme freundlicher. »Wir sammeln das ganze Jahr für ihn und sein Krankenhaus. Er kam hierher, um sich zu bedanken. Er ist schon seit mehr als zehn Jahren nicht mehr in Deutschland gewesen. Umso erfreulicher, dass er sich die Zeit genommen hat, unserem Konvent einen Besuch abzustatten.«
»Er sagte, er hätte hier im Kloster übernachtet.«
»Er hat im Gästehaus geschlafen«, bestätigte Schwester Orlanda.
»Welches Haus ist das?«
Schwester Orlanda wandte den Kopf und sah nach draußen.
»Das
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