Die Godin
gesehen. Ganz langsam ist sie gegangen mit ihrem Tascherl in der Hand, immer kleiner ist sie geworden und dann wars ganz fort.«
Die Stimme der Totenpackerin wurde weich. »Da… da hab ich auch recht tränzen müssen.« Sie schluchzte. »Und iatz… hat sie sich doch das Leben genommen. Hätt ich doch bloß mein dummes Maul gehalten…«
Der Bader mußte alles gehört haben. Er ging still zu ihr, umarmte sie und klopfte ihr sanft auf den Rücken. Nach einer Weile fand sie ihre Fassung wieder. Sie schneuzte sich. Kajetan räusperte sich.
»Bader-Vinz«, sagte er, »was hat denn die Aichinger Vroni eigentlich gehabt?«
Der Bader wandte den Blick nicht von seiner Frau.
»Die Fallsucht«, sagte er schlicht. »Epilepsia tarda, wenn Sie sich damit auskennen.«
Die Totenpackerin blickte stolz auf ihren Mann. »Dazugekommen ist eine Schwermut«, ergänzte er, »was bei dem, was sie durchmachen hat müssen, eine fast gesunde Reaktion ist, wenn man nicht grad ein Fischblut hat wie manch andere.«
»Damit hat sie im Irrenhaus eigentlich gar nichts verloren gehabt, oder?«
»Nein«, bestätigte der Bader. »Überhaupt nicht. Die Fallsucht kriegst zwar nicht los, aber da gibts einfachere Mittel, damitst fast wie ein Gesunder weiterleben kannst - und solche, die keinen Pfennig kosten. Ich bin den alten Urban auch noch angegangen, daß er sie da rausholt, weil ich das selber nicht tun kann. Aber er hat gesagt, mit einem Dorfbader wie mir redet er nicht über so was. Wie meine Frau und ich noch überlegen, was wir da tun können, haben sie sie tatsächlich närrisch gemacht in Allerberg.«
Er klatschte nach einer Schnake, die sich auf seine Stirn gesetzt hatte.
Kajetan hatte beschlossen, wieder zurückzufahren. Was er wissen mußte, hatte er erfahren. Mia muß verzweifelt gewesen sein. Vielleicht wollte sie nicht sterben - hätte sie sonst versucht, ihn zu erreichen? Vielleicht war es ein Versehen, vielleicht ersehnte sie - nur für einige Stunden, für eine Nacht, deren Dunkelheit nicht mehr zu ertragen war - diesen endlichen Frieden, den die Lebenden den Toten zudichten.
Er mußte sich beeilen, wollte er den letzten Zug nach München noch erreichen. Mit weiten Schritten ging er am Haus des alten Polizisten vorbei. Sinzinger schien nicht zu Hause zu sein; die Fenster waren unbeleuchtet, während in den Häusern um den Marktplatz bereits Lichter angegangen waren.
Wieder sah Kajetan vor seinen Augen das mühsam unterdrückte Entsetzen des alten Gendarmen vor seinen Augen. Wovor hatte Sinzinger Angst? Es mußte mit den Ermittlungen zusammenhängen, die er vor zwanzig Jahren durchgeführt hatte. Hatte er mit nachlässig recherchierten Ergebnissen dazu beigetragen, daß das Urteil gegen Mias Vater so entsetzlich hart ausfiel?
Vielleicht gab es ein Motiv, das dessen Tat verständlicher gemacht hätte. Sinzinger hatte vermutlich versäumt, sich darum zu kümmern, und es den Geschworenen leicht gemacht, einen Totschlag als vorsätzlichen Mord zu werten. Was aber konnte dieses Motiv gewesen sein? Gab es vielleicht eine verborgene Beziehung des Opfers zu seinem Mörder? Hatte es mit seiner Frau zu tun, mit seiner Tochter? Marti selbst muß dazu geschwiegen haben - doch wie wäre es jetzt noch möglich, dieses Geheimnis zu lüften? Alle Beteiligten, die darüber Auskunft hätten geben können, waren tot. Die Tat lag zwanzig Jahre zurück; nie mehr würde sie aufgeklärt werden können.
Fast hätte Kajetan den Ortspolizisten übersehen. Kaneder stellte sich ihm mit finsterer Miene in den Weg, schob seine Brille mit einer hastigen Bewegung zurecht und atmete heftig. Kajetan blieb verwundert stehen.
Kaneder war noch nie ein Freund vieler Worte gewesen. Er patschte an seinen Hals.
»Hauens ab«, befahl er.
Kajetan wurde ärgerlich. »Wenn Sie zur Förderung des Fremdenverkehrs beitragen wollen, dann stellen Sies falsch…«
»Werdens nicht frech. Sonst zieh ich andere Saiten auf.«
»Außerdem haben Sie kein Recht dazu. Ich hab mir nichts zuschulden kommen lassen. Beim Wirt zahl ich meine Zeche, und ich hab auch nicht die Häuser ausgeräumt. Ich bin beruflich hier und…«
Der Wachtmeister unterbrach ihn grimmig. »Kein Recht? Er kennt sich also aus? Hat Er womöglich schon einmal was mit der Polizei zu tun gehabt? Mir kommts fast so vor.« Er sah ihn lauernd an.
»Da weiß ich mir Schöneres.« Kajetan griff unwillkürlich an seine Wange. Ein Schmerz, als hätte ihn eine glühende Nadel gestochen, dehnte sich
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