Die Götter - Das Schicksal von Ji: Die Götter 4 - Roman (German Edition)
Schaden hatten die Kreaturen nicht in einer einzigen Nacht anrichten können. Wahrscheinlich flüchteten die Talbewohner schon seit vielen Jahren vor ihren Feinden auf die Bäume. Am Abend zuvor hatte Najel die Kerben nur nicht bemerkt, weil es schon zu dunkel gewesen war.
» Dort drüben müssen mehrere der Kreaturen gegeneinander gekämpft haben. Ich habe ihr Knurren und Schmatzen gehört«, sagte Josion.
Da die anderen nichts Besseres zu tun hatten, folgten sie ihm durch den Nebel, der über den Hügeln hing, und näherten sich der Stelle, wo der Kampf stattgefunden haben musste. Najel entdeckte die Überreste als Erster: die halb aufgefressene Leiche eines Verdammten. Das Gesicht des Toten war von Hass und Schmerz gezeichnet. Der Fund wäre überall auf der Welt abstoßend gewesen, aber hier rief er bei den Erben besonders starke Abscheu hervor.
» Meistens zerren sie sie wieder zurück in die Höhlen.«
Die Reisenden wandten sich zu Nol dem Seltsamen um, der mit lautlosen Schritten näher gekommen war. Zu ihrer Überraschung kniete sich der Alte neben dem zerfetzten Körper nieder. Er verharrte eine Weile andächtig, schloss dem Toten dann mit zitternder Hand die Augen und strich ihm ein paarmal über die verklebten Haare. Noch nie hatte Najel erlebt, wie jemand so großes Mitgefühl zeigte. Als sich der Hüter erhob, sah er ihn plötzlich mit ganz anderen Augen: Nol verdiente Ehrfurcht und Bewunderung. Auch seine Gefährten warfen ihm respektvolle Blicke zu.
» Und was macht ihr mit den Leichen, wenn die Verdammten sie nicht fortschleppen?«, fragte Damián. » Wenn sie sie liegen lassen, so wie heute?«
Nol schüttelte hilflos den Kopf.
» Begraben können wir sie nicht«, sagte er mit Bedauern. » Der Boden besteht aus hartem Fels, schon einen knappen Meter unter der Oberfläche. Und die Leichen zu verbrennen, ist zu gefährlich. Flammen haben die Kinder des Karu schon immer gereizt. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie aggressiv sie würden, wenn wir ein Feuer entzündeten. Deshalb werfen wir sie in die Mulde dort drüben und bedecken sie mit Steinen und Ästen. Mehr können wir nicht tun.«
» Kommt das oft vor, diese nächtliche Raserei?«, fragte Maara lapidar. » Oder war das nur ihre Art, uns willkommen zu heißen?«
Najel wunderte es, wie freimütig seine Schwester mit dem einstigen Gott sprach, obwohl er an ihr loses Mundwerk gewöhnt war.
» Früher war es ruhiger«, erklärte Nol. » Da waren die Kreaturen noch jünger und nicht so blutrünstig… Vor allem waren es viel weniger. Jeden Mond wird es schlimmer, und eure Ankunft hat sie natürlich noch aggressiver gemacht.«
Seine Wangen röteten sich, und Najel stellte erstaunt fest, dass auch Götter bisweilen in Verlegenheit geraten konnten. Doch dann fiel ihm ein, dass Nol nur noch ein gewöhnlicher Sterblicher war, nicht anders als die Erben.
» Vergebt mir«, sagte der Alte. » Es ist lange her, seit ich zum letzten Mal Besuch hatte. Ich habe mir angewöhnt, laut zu denken. Und die Umstände haben mich daran gehindert, euch gebührend zu empfangen. Ihr seid nicht schuld an dem, was letzte Nacht geschehen ist. Und ihr seid selbstverständlich in meinem armseligen Reich herzlich willkommen.«
Er verbeugte sich ungelenk, und aus seinem grauen Haar tropfte Tau auf den Boden. Als er sich wieder aufrichtete, knurrte sein Magen lautstark. Da bemerkte Najel, dass auch er einen Bärenhunger hatte. Die Erben hatten seit dem Vortag nichts mehr zu sich genommen. Nicht einmal die Nähe der zerfledderten Leiche konnte ihm den Appetit verderben. Als Nol sie einlud, sein Frühstück zu teilen, strahlte der Junge über beide Ohren.
» Wir haben uns so viel zu erzählen«, sagte Nol. » Was für eine Freude!«
Seine letzten Worte und die Begeisterung, die in ihnen mitschwang, erstaunten die Erben. Sie wechselten Blicke und ließen Nol ein paar Schritte vorgehen, um sich zu unterhalten.
» Er weiß nicht Bescheid«, flüsterte Guederic. » Er weiß nicht einmal, warum wir hier sind. Wir haben die lange Reise umsonst gemacht.«
» Er kann unseren Eltern nicht helfen«, sagte Lorilis traurig.
» Wartet doch erst mal ab«, befand Damián beschwichtigend. » Noch haben wir keinen Beweis dafür.«
» Aber er ist bloß ein alter Mann«, setzte Maara hinzu. » Ich wette, er faselt nur unzusammenhängendes Zeug!«
» Er mag nicht mehr der Ewige Hüter des Dara sein«, entgegnete Damián, » aber seine Erinnerungen und seine Weisheit hat er offenbar
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