Die Götter - Ruf der Krieger - Grimbert, P: Götter - Ruf der Krieger - Les Gardiens de Ji, Tome 1: La volonté du démon
Josion zufolge brauchten sie etwas länger als einen Tag bis zur Burg der Familie Kercyan, weshalb sie zum Übernachten haltmachen mussten. Dieser Gedanke bereitete Damián Bauchschmerzen. Er hasste es, ständig in Unsicherheit zu leben und immer neue Entscheidungen treffen zu müssen. Seine Arbeit in der Grauen Legion hatte ihn nicht darauf vorbereitet, eine zusammengewürfelte Schar Menschen auf der Flucht vor einem unbekannten Feind quer durchs Land zu führen.
Während er über die verschiedenen Möglichkeiten nachdachte, trat sein Bruder neben ihn. Guederics Miene war düster, und er sah Damián nicht in die Augen. Damián empfand Mitleid mit seinem Bruder, stellte jedoch mit Erleichterung fest, dass Guederic wie versprochen das Rapier am Gürtel trug.
Eine ganze Weile standen die beiden ungleichen Brüder stumm an der Reling. Irgendwann brach Guederic das Schweigen: »Bist du schon mal auf dieser Burg gewesen? Ich kann mich nicht daran erinnern, sie je gesehen zu haben. «
»Einmal, glaube ich, aber da waren wir noch sehr klein. Ich erinnere mich nur vage. Wenn du mehr über die Burg wissen willst, frag doch Josion.«
»Josion, ach ja …«
Guederics mangelnde Begeisterung war nicht zu überhören. Damián konnte es ihm nicht verdenken: Auch er vertraute Josion nicht rückhaltlos. In ihrer Lage schien es
die beste Lösung zu sein, sich auf der Burg zu verstecken, aber er hätte gern etwas mehr Gewissheit darüber gehabt, was sie dort erwartete.
»Josion war selbst seit vier Jahren nicht mehr dort«, murmelte Damián. »Ich hoffe nur, dass es diesen Geheimgang noch immer gibt und er nicht eingestürzt ist.«
»Nehmen wir einmal an, der Gang ist passierbar. Wie lange sollen wir uns auf der Burg versteckt halten? Zwei, drei Tage? Länger? Wann können wir nach Lorelia zurück? «
»Ich weiß es nicht. Das hängt auch davon ab, was wir dort vorfinden. Vielleicht haben uns Zejabel und Nolan einen Brief hinterlassen. Vielleicht sind sie sogar zu Hause. Auf jeden Fall müssen wir auf der Burg bleiben, bis unsere Feinde nicht mehr nach uns suchen. Wir können nicht einfach nach Lorelia zurück, dann würden wir ihnen geradewegs in die Falle gehen.«
»Wir wissen nicht, ob sie uns immer noch auflauern«, widersprach Guederic. »Außerdem brauchen Mutter und Vater unsere Hilfe.«
»Ich weiß, auch ich kann an nichts anderes denken. Vielleicht sind wir ihre letzte Rettung. Aber gerade deshalb dürfen wir es nicht vermasseln.«
Guederic schnaubte und spuckte in den Fluss. Damián nahm seine Unmutsäußerung nicht persönlich, denn er kannte seinen Bruder gut genug, um zu wissen, was in ihm vorging: Guederic hasste es, nicht tun und lassen zu können, was er wollte. Die Aussicht, weit entfernt von allem, was sein Leben ausmachte, tatenlos herumzusitzen, musste ihn wahnsinnig machen. Damián beschloss, das Thema zu wechseln.
»Ich hatte mir immer vorgenommen, mal einen Ausflug zur Burg zu machen. Als Erwachsener hat man einen ganz anderen Blick darauf. Aber ich hätte nie gedacht, dass es unter solchen Umständen geschehen würde.«
Guederic zuckte mürrisch mit den Achseln, doch dann wurden seine Gesichtzüge weicher. »Zumindest hast du so Gelegenheit, sie dir in Ruhe anzusehen«, sagte er. »Schließlich wirst du sie eines Tages erben.«
Damián nickte. In der Familie wurde aus Rücksicht auf seinen Großvater Reyan, der sich trotz seines hohen Alters bester Gesundheit erfreute, nie über das Erbe gesprochen. Alle Ländereien des Herzogtums und der Adelstitel gehörten Reyan von Kercyan, doch da dieser das Stadtleben liebte, hatte er sich immer geweigert, auf die Burg zu ziehen. Mit dem Segen des Familienoberhaupts hatten sich daher Nolan und dessen Familie auf Clérimont niedergelassen, aber sie besaßen keinerlei Erbansprüche.
Bei Reyans Tod würde die Burg an Eryne fallen, und später dann an Damián. So war es Gesetz in Lorelien: Der älteste Sohn oder die älteste Tochter erbten den Adelstitel und allen Besitz, der dazugehörte. Die anderen Geschwister gingen dennoch nicht leer aus: Alle Ländereien, Gebäude und Reichtümer, die nicht direkt zum Herzogtum gehörten, wurden gerecht unter ihnen aufgeteilt. So waren sowohl Nolans als auch Erynes Familie gut versorgt.
»Vielleicht gehört dir die Burg ja sogar schon …«, sagte Guederic leise.
Er sprach nicht weiter, aber Damián überlief es eiskalt. Er wusste sofort, was sein Bruder meinte: Vielleicht waren ihre Großeltern und Eltern längst
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