Die Göttin im Stein
seine große Schwester. Und große Schwestern passen ganz gut auf ein kleines Baby auf. Und wenn das Baby weint, holen sie sofort seine Mutter.«
Kori strahlte und nickte.
Dennoch wartete Naki, bis Wirrkon eingeschlafen war, ehe sie in den Gemüsegarten zurückkehrte.
Seltsam leer fühlte sie sich ohne die vertraute Last des Kleinen. Eine leise Unruhe stieg in ihr auf, doch entschieden nahm sie den Korb und begann wieder Bohnen zu pflücken. Mit halbem Ohr hörte sie Leles und Daires Gespräch über die bevorstehende Getreideernte zu.
»Hoffentlich gibt es kein Gewitter mehr«, sagte Daire. »Ja«, stimmte Naki zu. »Das wäre ein Jammer. Unser Emmer steht so gut!«
»Unser?« wiederholte Daire und lächelte ihr zu. »Wie schön, Naki, daß du ›unser‹ gesagt hast!«
Überrascht hielt Naki inne, suchte nach einer Antwort. Da stürzte Kori in den Garten.
Naki erstarrte.
Wirrkon. Es ist etwas geschehen –
»Kori!« Sie rannte dem Kind entgegen. »Was ist passiert?« Kori zeigte zum Wohnhaus, ihr Gesicht blaß, ihre Augen
vor Schrecken geweitet. Stumm flüchtete sich Kori in Daires Rock.
Doch das sah Naki nicht mehr. Naki rannte.
Aus dem Wohnhaus drang kein Laut. Kein Babygeschrei.
Naki riß die Tür auf, stürmte ins Haus, konnte mit von der Sonne geblendeten Augen kaum etwas erkennen, eilte zum Lager, auf das sie Wirrkon gelegt hatte.
Es war leer.
Sie stand da mit hängenden Armen.
Da plötzlich Wirrkons fröhliches Geplapper hinter ihr. Sie fuhr herum.
Auf der Wandbank saß Lykos. Und er hob mit ausgestreckten Armen Wirrkon in die Luft.
Der Kleine strampelte und lachte.
Wirrkon. Er lebt!
Dann nur noch ein Gedanke: Das Kind an sich reißen. »Mir mein Kind gebt!« rief sie in seiner Sprache und stürzte
auf Lykos zu. Sie begegnete seinem Blick und stockte. Er hält mein Kind, ich darf ihn nicht in Wut bringen. Zitternd blieb sie stehen.
Lykos betrachtete sie noch immer mit erhobenen Augenbrauen.
Da erst erkannte sie mit eisigem Schreck, daß sie vergessen hatte, sich vor ihm in den Anschein stumpfer Blödigkeit zu retten.
Sie hatte sich verraten.
»Naki! Du erkennst mich!«
Es war zu spät für Verstellung. Sie ging vor ihm in die Knie.
Er hat Wirrkon. Nichts falsch machen.
Lykos faßte ihr ans Kinn. »Wer bin ich?«
»Ihr Lykos seid.« Sie stockte, fügte heiser hinzu: »Mein Herr.«
»Und der Vater deines Sohnes!« sagte er, ließ ihr Kinn los, faßte ihre Hand und zog sie aufstehend in die Höhe.
Sie spürte: In dieser Geste lag etwas Endgültiges.
Eine unbestimmte Hoffnung erfüllte sie. Bittend streckte sie die Hände nach Wirrkon aus.
Lykos gab ihn ihr nicht. Seine breite Hand ruhte auf dem zerbrechlichen Köpfchen. »Was für ein hübscher, gesunder junge«, sagte er. »Und so kräftig!«
Rasche Schritte näherten sich, ein leiser Aufschrei von der Tür her. Lele war hereingekommen.
Naki nahm kaum wahr, was um sie herum geschah, sah nur das eine: Die viel zu starke Hand auf dem viel zu zerbrechlichen Köpfchen.
Lykos redete, plötzlich gelang es ihr nicht mehr, die fremden Sätze zu erfassen, »Dank«, hörte sie, »Sohn«, »Vater« und »Pflicht«, begriff nicht.
»Verzeiht, Herr, ich nicht verstehe!« murmelte sie und dachte nur: Wirrkon darf nichts geschehen. Nicht Wirrkon. Er winkte Lele, ihr zu übersetzen.
Lele hatte rote Flecken im Gesicht. Ihre Stimme aber war ausdruckslos, als sie Lykos' Rede wiedergab:
»Er sagt, da es ihm scheint, daß die Dämonen aus dir herausgefahren sind und du wieder deiner Seele mächtig bist, will er die Gelegenheit ergreifen, dir zu danken, daß du ihm einen gesunden und kräftigen Sohn geschenkt hast.«
Lele schwieg, hörte mit eisiger Miene zu, was Lykos weiter sprach, übersetzte wieder. Und so hörte Naki noch einmal von Lele, was sie halb und halb bereits von Lykos verstand:
»Er sagt, er hat dich unwiderruflich als seine Nebenfrau verstoßen, du bist eine verwerfliche Zauberin, und die Himmlischen haben dich für deinen Ungehorsam geschlagen – er sagt, aber keiner soll behaupten, daß ein Herr der Söhne des Himmels sich einer Frau nicht großmütig erweist, die seinen Sohn geboren hat – er mußte dich bestrafen, aber er wird dich dennoch belohnen – er sagt, du bist nicht länger sein Besitz, er gibt dich frei, du kannst hier an unserem Hof bleiben, aber du kannst auch gehen, wann du willst und wohin du willst –« Lele gab ihre unbeteiligte Übersetzerrolle auf, flüsterte erregt: »Naki, hast du gehört?! Du bist
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