Die Göttin im Stein
Kind, komm schon, laß dich wenden, du liegst quer,
so
kommst du nicht heraus, den Kopf nach unten, wie es sich gehört, ihr Nothelferinnen, hört ihr denn nicht, so habt doch Erbarmen, helft mir das Kind zu drehen, helft mir doch endlich! Es bringt meine Schwester um, warum helft ihr nicht, ich opfere euch meinen Bernsteinschmuck, was sag' ich, all meinen Schmuck, ihr könnt es doch, tut es endlich, verflucht noch mal, du sollst dich drehen, Wurm!«
Eine Wehe jagte die andere, heftiger und immer noch heftiger. Jede unerträglich bis zum Unvorstellbaren – und doch alsbald übertroffen von der folgenden.
Moria schrie. Brüllte. Gellte.
Keine Pausen mehr. Eine endlose gleißende Qual.
Sie rannte durch den Wald, keuchte.
Etwas war hinter ihr her.
Plötzlich war da ein Wolf. Drohend stand er vor ihr, das Gebiß gefletscht, den Kopf vorgereckt.
Sie wollte sich bücken, einen Stock aufheben, einen Stein. Da stürzte er sich auf sie. Er schlug seine Zähne in ihren Bauch.
Sie schrie.
»Was hast du mit meinem Sohn gemacht?!« brüllte Lykos sie an.
»Hier!« Zitternd streckte sie ihm das Söhnchen entgegen. Winzig, kalt und starr lag es in ihren Händen, weiß wie das Totentuch, in das es gehüllt war.
»Wirf ihn weg! Er ist tot!« Lykos stieß sie zurück. »Meinen lebenden Sohn, meinen starken Sohn!«
»Naki ist seine Amme, ich, ich hab' keine andere . . .« »Naki?!« Er zog seinen Dolch, rammte ihn ihr, in den Leib.
Sie schrie.
Lykos, die Schnur in der Hand. Blanke Wut im Gesicht. »Was ist das für ein Knoten?«
»Bitte«, stammelte sie, »versteh, es ist doch – weil ich dich liebe . . .«
»Liebe?« brüllte er. »Du verfluchte Hexe! Ich werde dich lehren, Knoten zu binden!«
Krallen an seiner Hand. Raubtierkrallen.
Er riß ihren Bauch auf, riß die Gedärme heraus. Und begann die blutigen Gedärme zu verknoten.
»Da hast du deinen Knoten!« Sie schrie.
Rote Nebel waberten um sie.
Ihr Körper ein sengendes Feuer. Glut in ihren Adern. Da. Die Nebel teilten sich.
Cythias Gesicht. Verschwommen und ins Riesenhafte verzerrt.
Tränen liefen Cythia über die Wangen.
»Meine arme, arme Schwester. Du bist sehr krank. Versuch zu schlafen, Liebes. Schlaf, Moria, schlaf!«
Sie saß mit dem Vater auf dem Pferd. Vor ihnen ein Mann im roten Mantel. Der Vater ließ sie los, griff nach dem Bogen. Sie fiel.
Der Vater trieb das Pferd weiter. Es stieg auf die Hinterhand, scheute vor ihr, die am Boden lag.
Plötzlich waren Flammen um sie herum. Sie konnte sich nicht rühren. Sie versuchte wegzukriechen. Unsichtbare Stricke hielten sie. Mitten im Feuer.
»Vater«, wimmerte sie, »warum hilfst du mir nicht?« »Ich kenne dich nicht«, hörte sie die Stimme des Vaters.
Hände wie Flügel an ihrem Kopf. Leichte Berührung der
Schläfen, sanftes Kreisen.
Das Feuer im Leib fiel in sich zusammen. Kühle löschte die Glut.
Sie begann zu pulsen. Rot erst, dann violett, dunkler und dunkler, samtig schwarz.
Die Große Frau war neben ihr, über ihr, unter ihr. Hielt sie. Stieg mit ihr empor. Schwebte mit ihr über dem Moor.
Ihre schwarzen Tücher wallten im Nachtwind. Ihr dunkles Gesicht leuchtete stad, wie ein kleines Licht hinter dichtem Stoff.
»Verlier den Stein nicht!« Eine Stimme wie das Murmeln einer Quelle. »Der Stein führt dich den Weg zurück.«
Jemand flößte ihr Suppe ein.
Jemand wickelte ihr kalte Tücher um die Waden. Jemand strich ihr den Schweiß von der Stirn.
»Nein«, murmelte sie schwach. »Nicht so. Die Hände. Die Hände der Großen Frau.«
»Geh, Sahir, hol Naki!« sagte leise eine Stimme.
Cythia?
Und dann waren die Hände wieder auf ihren Schläfen. Kühle. Das Schweben. Die Große Frau.
Das Töchterchen der Herrin war an Nakis Brust eingeschlafen. winzigen Lippen hatten sich geöffnet, und die Brustwarze war halb freigegeben. Sacht nuckelte die Kleine noch vor sich hin.
Naki lag auf dem Rücken, fühlte kaum das Gewicht des Winzlings: leicht wie eine Feder. Der rasche, kleine Herzschlag flatterte wie ein Vogel.
»Vögelchen«, flüsterte sie, streichelte über den viel zu kleinen Kopf, begann ein Lied zu summen.
Wirrkon neben ihr wachte auf, strahlte sie an. Sie hielt ihm ihre Halskette hin. Einen Augenblick vermißte sie mit schmerzhaftem Stich den Stein der Göttin, den sie stets um den Hals getragen hatte. Sie würde ihn nie mehr von der Herrin zurückfordern können. Die Göttin hatte es anders entschieden.
Wirrkon schob die Kette zur Seite und suchte nach Nakis
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