Die Göttin im Stein
Owros hatte ihr täglich gemeldet, daß alle Männer bei der Arbeit ihr Äußerstes gäben.
Sie hatte das Korn sehr reichlich zugemessen.
Die Getreidevorräte waren rasch zusammengeschmolzen. Mehr und mehr hatte sie auf die gewaltigen Schaf- und Rinderherden zurückgreifen müssen, die Lykos' Stolz und größter Besitz waren.
Aber war etwa der Hof nicht noch vor diesem Winter fertig geworden – größer und gediegener als jeder andere Herrenhof?
Moria lächelte.
Ria rutschte bäuchlings den Schneehaufen hinunter, ein festgefrorener Schneebrocken ritzte die zarte Haut ihrer Wange, sie weinte kläglich. Moria nahm sie auf den Arm. »Ist nicht so schlimm. Komm, wir schauen, ob die Sonne bald untergeht!« Sie ging mit der Kleinen aus dem Hof auf den Steg, der über den Graben führte.
Jemand kam langsam den Weg auf das Hoftor zu.
Moria blinzelte gegen den Abendhimmel: Eine Frau, die etwas auf einem kleinen Holzschlitten hinter sich herzog. Die Frau schien sich nur noch mit Mühe vorwärts zu schleppen.
Moria wartete.
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Vielleicht wollte ihr die Bäuerin etwas zum Tausch anbieten. Schon legte sie sich ablehnende Worte zurecht, beschloß aber, der Frau eine warme Mahlzeit und ein Nachtlager zu gewähren. Da erkannte sie, daß auf dem Schlitten kein Korb verschnürt war, sondern daß ein Kind darauf saß.
Endlich war die Frau bei ihr angelangt, blieb stehen, grüßte stumm.
Ein abgezehrtes Gesicht, das alt wirkte und doch sehr jung sein mußte.
Keine der Bäuerinnen, die Moria kannte.
Aber irgend etwas in diesem Gesicht war vertraut. Eine unbestimmte Erinnerung streifte Moria.
Die Frau sah sie flehend an. Als habe sie keine Worte mehr. Unter ihrem Mantel lugte der Kopf eines Säuglings hervor.
»Herrin«, brachte die Bäuerin endlich hervor – dieses Gesicht, woran erinnert es mich –, »Moria, kennt Ihr mich nicht mehr?«
Moria streckte zögernd die Hand vor. »Wai?« fragte sie ungläubig. Und dann wiederholte sie noch einmal freudig: »Wai!«
Die andere zitterte.
Die Stimme des Vaters: Wage nicht noch einmal mit diesem Mädchen zu spielen! Du redest kein Wort mehr mit ihr! Wenn du ihr begegnest, gehst du an ihr vorbei, als würdest du sie nicht kennen!
Du hast mir nichts mehr zu befehlen, Vater.
Moria faßte die Hände der anderen. »Was ist mit dir, Wai, nun komm doch rein, daß ich dich noch einmal wiedersehe, bist du den ganzen Weg gelaufen, nur um zu mir zu kommen?«
»Ich wußte mir nicht mehr zu helfen. Ihr seid meine letzte Hoffnung«, erwiderte Wai stockend.
Moria suchte die Freundin ihrer Kindheit in dem schmalen Gesicht, sah die eingefallenen Wangen, die verhärmten Züge, sah den Hunger in den fiebrigen Augen, hörte das schwache Wimmern des Säuglings. Und begriff.
Sie zog Wai hinter sich her, in den Hof, in das Haus, vor das Feuer. »Noedia!« rief sie. »Bring Essen! Und bitte Sahir, zu mir zu kommen!«
Wai saß zitternd auf der Bank und drückte mit einem Arm ihr Baby, mit dem anderen ihr Kind. »Sie verhungern«, sagte sie heiser, »ich habe sie beide gestillt, aber nun ist mir die Milch weggeblieben.«
»Es wird alles gut, Wai! Jetzt bist du ja bei mir! Ein paar kräftige Mahlzeiten, und die Milch kommt wieder. Und bis dahin – Lykos' Nebenfrau hat ein Baby, ich bitte sie, daß sie deines stillt.« Moria setzte Ria auf den Boden, nahm Wais Baby, wandte sich zu Sahir um, die eben hereinkam. »Bitte, Sahir! Dieses arme Würmchen hier ist am Verhungern. Kannst du ...«
Sahir ließ sie gar nicht erst ausreden. Nahm das Baby an die Brust.
Noedia kam mit Brot und Fleischsuppe herein, lief hin und her, brachte für das Kind eine Schale mit Brei, brachte Käse und Dörrobst, schüttelte dabei immer wieder vorwurfsvoll besorgt den Kopf.
Wai begann ihr größeres Kind zu füttern und selbst mit kaum verhohlener Gier Essen in sich hineinzuschlingen. »Steht es so schlimm bei euch?« fragte Moria.
Wai nickte. »Das Dorf wurde niedergebrannt, letztes Jahr. Wir hatten die Frucht auf den Feldern, aber diesen Sommer mußten wir außer dem Saatgut die ganze Ernte abliefern. Als Sühne für den abgebrannten Herrenhof, hat Euer Vater gesagt.
Dabei haben wir mit dem Brand des Rösoshofes nichts zu tun, mein Bruder hätte sich nie und nimmer an einem Anschlag auf den Herrenhof beteiligt!
Im nächsten Jahr läßt er uns unseren Anteil an der Ernte, hat der Herr gesagt, Euer Vater. Aber bis dahin«, sie sprach nicht weiter.
Mein Vater. Nimmt ihnen ihr Getreide weg und gibt sie dem
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