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Die Göttin im Stein

Titel: Die Göttin im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Beyerlein
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etwa nicht?«
    »Doch, genau das habe ich auch gedacht: Daß es ein Wunder ist und das Größte, was ein Mensch erleben kann. Aber es fiele mir nie ein, Lykos zu bemitleiden! Oder gar meinen Vater!«
    Wai lachte. »Das ist wahr, die beiden haben dir wenig Anlaß gegeben, Mitleid mit ihnen zu haben!« Sie umarmte Moria.
    Ria auf Morias Schoß sträubte sich gegen die doppelte Umarmung, glitt von Morias Knien und hüpfte mit Wais Kind um die Feuerstelle.
    Moria sah ihr nach. »Warum hat Naki das getan, warum hat sie ihr Leben eingesetzt, um Lykos' Tochter zu retten? Nach allem, was Lykos ihr zugefügt hat?« fragte sie.
    Wai schüttelte den Kopf. »Sie hat nicht Lykos' Tochter gerettet. Sie hat ein kleines Mädchen gerettet. Weil sie auf die Stimme der Lebenserhalterin gehört hat.«
    »Ich würde es gerne verstehen, Wai.«
    »Dann komm mit mir zu den Frühlingstänzen!«
    Da ist sie wieder, die Große Frau. Ich kann sie nicht sehen, aber ich spüre sie. Vor mir, neben mir, hinter mir.
    In mir.
    Sie war immer da.
    Diese Töne. Mein Kopf ein Instrument. Mein Knochen eine Flöte.
    Das Summen eines Bienenschwarms, das Rauschen des Frühlingswindes im Wald, das Klingen des Himmelsgewölbes.
    Das bin nicht mehr ich, die singt. Es singt aus mir, steigt auf
    aus meiner Kehle, weitet den Schädel, hebt mich empor. Mein Ton unter den vielen. Ein Universum der Musik. Wir tanzen noch immer. Auch ich tanze, tanze wirklich,
    nicht nur mit den Füßen, den Armen. Mit Leib und Seele.
    Mein Becken erwacht, lebt eigenes Leben.
    Ein Stein fällt ins Wasser. Ein Kreis wird geboren, wird größer und größer, mehr Kreise und mehr, der ganze See kreist, langsam verebbt er, und wieder von vorn. Der Kreis der Sonne über dem Himmel und unter der Erde. Zwei kleine Mädchen, die Hände gekreuzt, drehen sich im Kreis, Wai, dein Gesicht, strahlend im Licht.
    Wellen im Bach, auf und ab, glitzerndes Blinken, ein Blatt auf den Wogen, warmes Wiegen.
    Ein Vogel, getragen vom Wind, keine Mühe, kein Schlagen der Flügel, nur sanftes Gleiten, höher und tiefer, ewiger Wechsel.
    Wir sind seine Schwingen, bewegt vom Lufthauch, schweben im Äther.
    Weich meine Glieder, locker und lose, nie wieder gebunden, streif ab alle Fesseln, frei bin ich, frei.
    Die Frauen tanzten die neunte Nacht nach dem wiegenden Rhythmus der auf- und abschwellenden Töne, die sie gemeinsam summten, hielten sich bei den Händen, nahmen einander mit in die fließende Bewegung, in die Tiefe der Trance.
    Längst waren sie nicht mehr einzelne Frauen, längst waren sie eins. Bald Vogel, bald Schlange. Ihre Spuren im Sand: Kreise, Spiralen und Wellen.
    Moria eine unter ihnen, schon nicht mehr fremd.
    Rot vor Verlegenheit, zitternd aus Angst vor Zurückweisung wie aus Erschrecken über die aberwitzige Kühnheit ihres verbotenen Vorhabens, war sie auf Wais beharrliches Drängen hin zum Frühjahrstanz der Frauen des Alten Volkes gekommen.
    Mit schweigender Selbstverständlichkeit hatten die Bäuerinnen und Mädchen sie in ihre Reihe aufgenommen, als trennten nicht Welten sie voneinander, als sei sie nicht eine Herrin der Söhne des Himmels, als zähle nur eines: Sie war eine Frau.
    Worte hatte sie sich zurechtgelegt, Erklärungen: Daß sie niemals ihren Göttern abschwören würde, niemals aufhören sie anzubeten und zu verehren, daß die Macht der Himmlischen jedem Zweifel enthoben sei, daß aber die Himmlischen manchen Nöten einer Frau gleichgültig die Schulter kehrten, erhaben über solch erdverhaftete Schmerzen. Daß sie einmal in Kindsnöten und schwerer Krankheit Kraft und Trost durch die Schwarze Göttin erfahren habe, daß sie, wäre sie recht bei Sinnen gewesen, niemals zugelassen hätte, daß die Göttin von einer Magd des Alten Volkes für sie angerufen werde, doch da dies nun einmal geschehen sei, wolle sie die schuldige Dankbarkeit erweisen und mit ihnen, den Bäuerinnen, ihre Göttin durch den Tanz ehren.
    Keines dieser Worte hatte sie gebraucht. Denn niemand hatte sie irgend etwas gefragt oder irgend etwas von ihr verlangt.
    Auch die anderen Worte hatte sie nicht gesprochen: Daß sie darum bäte, man möge über ihre Teilnahme an dem Tanz nicht sprechen. Wenn ihr Mann zurückkehre, dürfe er unter keinen Umständen davon erfahren, niemals dulde ein Herr in seiner Hoffamilie eine Verehrung der Schwarzen Göttin.
    Das hatte sie gleich sagen wollen, als erstes. Doch als sich bei ihrer Ankunft die Kette der tanzenden Frauen gelöst und sich ihr wortlos Hände

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