Die goldene Barke
handelte.
»Kommen Sie!« rief er, machte einen Satz nach vorn und packte den weißhaarigen Mann am Arm. »Kommen Sie, verschwinden wir von hier!« Er trieb den Prediger auf eine der vielen labyrinthischen Straßen zu, die sich vom Markt fortwanden. Er mußte den Prediger beinahe hinter sich herziehen. Ein Gewehrschuß zerriß hinter ihnen die stille Luft. Der Prediger bewegte sich dann etwas schneller, wenn auch noch immer voller Zögern.
Sie rannten weiter. Stiefel stampften, Stimmen schrien, sie sollten stehenbleiben.
»Hier hinein«, sagte Mesmers schließlich und deutete auf einen dunklen Hauseingang. Tallow sprang hinein. Mesmers öffnete eine Tür, und sie traten in einen lichtlosen Flur. »Ich danke Ihnen.« Tallow lehnte sich keuchend an eine Wand.
Mesmers’ Stimme drang aus der Dunkelheit zu ihm. »Sie
sind hier fremd, nicht wahr?«
»Bin ich«, gab Tallow zu. »Ich heiße Tallow.«
»Mesmers, Ophum Mesmers.«
»Ich hörte Sie da hinten predigen. Es … es klang gut.« Tallow log. Er hatte die Worte des Predigers kaum zur Kenntnis genommen.
Tallow hörte Mesmers umherschlurfen. Schließlich wurde eine Kerze entzündet, und Tallow staunte, wie verschmutzt der Raum war. Nicht einmal in seiner Heimatstadt hatte er solche Armut und solchen Dreck gesehen. Er setzte sich auf eine umgedrehte Kiste. »Was machen wir jetzt?« wollte er wissen. »Wir verstecken uns einige Zeit«, sagte Mesmers sachlich. Er drehte sich um und blickte Tallow an, der überrascht war, weil der Lehrer viel älter war, als er angenommen hatte. Die Gesichtshaut war wie ein Baumstamm mit Furchen überzogen, und die Augen waren blau, von einem blassen Blau, das fast ins Graue überging. Sie waren voller Humor, waren weise und menschlich und freudig. Es waren Augen, die das Leben als gut und wert, gelebt zu werden, erkannt hatten. Der Ehrwürdige Mesmers war ein Mensch.
Tallow begriff plötzlich, daß er diesen Mann lieben konnte. Er hatte noch nie jemanden getroffen, der einen so merkwürdigen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Er konnte Mesmers dienen. Das alte Gesicht des Predigers strahlte Weisheit aus, doch Tallow war weniger von der Weisheit angezogen, als von dem tiefen Wissen, das er anscheinend besaß. Ein Wissen um grundlegende Dinge, ein Wissen um die Wahrheit, um Gott? Er hat, dachte Tallow, seine Barke gefunden. Aber wie? Wenn er bei ihm blieb, konnte er möglicherweise entdecken, wie. Er mußte unbedingt bleiben.
Die nächsten paar Tage waren gefährliche Tage. Tallow staunte, denn die Stadt wurde von einer Stimmung des Argwohns beherrscht, die wie eine Krankheit war, wie ein Leiden, das sich ausbreitete und Tallow ansteckte.
Er lernte die Kunst des Schleichens, die Schatten benützen, das Lauschen. Tallows Ohren waren sein Schutz, so wie sich der Pflanzenfresser durch seine feinen Ohren vor dem Fleisch fresser schützt, der ihn jagt. Bald erkannte er jedes Geräusch des Steindschungels, denn Tallow war ein Fremder, auf den Jagd gemacht wurde, und die Polizei wollte Mesmers tot oder lebendig in die Finger bekommen.
Da Tallow ein Fremder und aufgrund seines ungewöhnlichen Körperbaus leicht zu identifizieren war, konnte er sich, abgesehen von dem kleinen Kreis der Verbündeten Mesmers’, kaum auf mitfühlende Freunde verlassen. Er befand sich in der Nähe des Predigers und war so etwas wie dessen Sinnesorgan für Angst, denn der Prediger war sich die meiste Zeit der Gefahr nicht bewußt. Es war schwer zu sagen, ob er sie nicht spürte oder von ihr lediglich nicht berührt wurde.
Mesmers verlegte wegen der allgegenwärtigen Spitzel mehrmals in der Woche sein Hauptquartier. Tallow versuchte ihn davon zu überzeugen, daß er die Stadt verlassen mußte, um sich einige Zeit in den Bergen zu verstecken und die Leute zu sich kommen zu lassen. Mesmers ging jedoch nicht darauf ein. Er habe eine Pflicht, sagte er, und wenn er die Gefahr nicht mit den Leuten teile, könne er auch nicht ihre Ängste und Hoffnungen teilen. Das leuchtete ein, doch Tallow stritt weiter. Seine Ehrfurcht und Bewunderung für Mesmers war zu etwas Stillem geworden, und zum ersten Mal seit dem Auftauchen der goldenen Barke, die ihm eigentlich die Augen für die Welt, die ihn umgab, geöffnet hatte, fühlte er Frieden in sich. Mesmers’ Lebenslust, sein Glaube an die Menschheit war so ansteckend wie die Stimmung in der Stadt.
Die Worte des Predigers aber beunruhigten Tallow. Worte wie Gott, Allumfassende Brüderschaft, Ewige Liebe, Gut und Böse. Das
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