Die goldene Barke
waren alles Worte, die ihm wenig bedeuteten. Es lag also nicht an Mesmers’ Worten, daß er sich jetzt zu Handlungen begeistern ließ, die ihm früher fremd gewesen waren. Der bloße Gedanke, für jemanden sein Leben aufs Spiel zu setzen, würde ihn bestürzt und entsetzt haben, und selbst jetzt bereute er irgendwie seine Aufopferung, obwohl er nicht genau sagen
konnte, weshalb.
Es war, als habe er sich selbst die Treue gebrochen, als habe er seine Wesensart verraten, denn im Grunde war Tallow immer noch selbstsüchtig. Er hatte selbstsüchtig geliebt und gehaßt, ohne tiefere Beweggründe. Er wußte es und schämte sich nicht. Warum sollte er sich schämen? Er war ganz bei sich gewesen.
Doch das Zusammentreffen mit Mesmers hatte seine Ganzheit zerstört, hatte einen Teil seiner Keckheit zerstört. Und er hatte noch immer Angst vor den Gefühlen, die in ihm wuchsen, wenn es auch gute Gefühle waren. Er konnte nichts machen, es waren nicht Tallows Gefühle, nicht die Gefühle des Tallow, der er sein wollte; sie waren zu störend, zu aufwühlend. Sie hatten ihn schon von der Barke entfernt und drohten jetzt, ihn in die Selbstzerstörung zu treiben. Er konnte manchmal nicht mehr schlafen, weil der Schrecken über das, was sich tat, zu tief in ihm saß. Befand er sich jedoch auch nur wenige Minuten in der Nähe Mesmers’, so vergaß er völlig seinen Selbstverrat. Und so zeichnete sich wieder eine Entscheidung ab, aber Tallow wollte es sich nicht eingestehen.
Neuntes Kapitel
D er Raum war heiß, dunkel, angefüllt mit Qualm und
dem Geruch brennender Öllampen. Etwa dreißig
Leute saßen still auf Hockern und Stühlen. Vorn im Zimmer kniete der Ehrwürdige Mesmers in der Nähe der Tür und betete stumm und unauffällig. Schließlich erhob er sich und hieß die Versammelten mit einem Lächeln willkommen. Tallow saß am anderen Ende des Raumes und starrte gelangweilt auf die schäbig gekleideten Rücken und das verschmutzte Haar von Mesmers’ Gemeinde. Er war ein Außenseiter, gehörte nicht zu ihr.
Mesmers’ Predigten langweilten Tallow, obwohl die Zuhörer offensichtlich genau die entgegengesetzte Reaktion zeigten. Sie versammelten sich mit unruhigen Augen und gebeugten Schultern, sahen sich nicht an, aber wenn sie gingen, hielten sie sich aufrechter, lächelten sich aus strahlenden Augen an. Zum Teil hatte Tallow genau dagegen etwas. Er haßte diese Eintracht. Obwohl Mesmers’ Gegenwart fast das gleiche in ihm bewirkte, mochte er dennoch seine finstere Bewunderung mit niemandem teilen. Er war selbstsüchtig.
Der Ehrwürdige Mesmers begann langsam und eindringlich zu sprechen.
»Wie denken die meisten von euch über Gott?« fing er an. »Ist Er eine gestaltlose Wolke allumfassender Liebe? Ein ehrwürdiger, weißhaariger Alter im Himmel? Ein feuriges Schwert der Gerechtigkeit?«
In der Gemeinde wurde Murmeln laut. Man mochte die Frage anscheinend nicht. Tallow verspürte in sich eine gewisse Zufriedenheit.
»Er ist all das«, sagte Mesmers, und die Menge beruhigte sich. Tallow verzog das Gesicht. Dann fuhr Mesmers fort: »Soll ich euch sagen, wie ich Gott sehe? Ich sehe Ihn in euch, in mir, in Mr. Tallow dort drüben.« Tallow war entsetzt und verlegen. »Ich sehe Ihn in den Wänden des Zimmers, in den Lampen, im Qualm, in einem Tag, einem wolkenlosen Himmel, in einer Wolke, einem Hund, einem Messer. Ich sehe Ihn in all diesen Dingen, weil Er in all diesen Dingen ist. Er ist sie, und sie sind Er. Gott ist nichts Bestimmtes, und Er ist alles. Deshalb sind unser Streiten und unser Haß falsch. Unsere Aufgabe ist, zusammenzuhalten, jeden zu lieben und zu respektieren. Ganz gleich, was Florum einem von euch antun wird, ihr werdet die Stärke aller haben. Florum kann Haß mit Haß begegnen, aber er kann nicht gegen die Liebe kämpfen. Er kann gegen die Stärke, die ihr haben werdet, nichts ausrichten.«
Mesmers sprach in dieser Art noch etwa zwanzig Minuten lang, beantwortete Fragen, führte sein Thema weiter aus, war ruhig, freundlich, überzeugend, respektierte die Meinungen, die vorgebracht wurden. Und während er redete, schienen die zerlumpten, schäbigen Leute mit Mesmers eins zu werden, wurden sie eine Einheit. Tallow hingegen blieb weiter der gelangweilte, verärgerte Außenseiter.
Er wartete ungeduldig ihr Gehen ab, erhob sich dann und begab sich zu Mesmers hinüber, der offenbar tief in Gedanken versunken war.
»Mr. Mesmers«, sagte er ehrfürchtig, doch Mesmers schien ihn nicht
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