Die goldene Barke
plötzlich nach, weil ihn ihre Erniedrigung beschämte. Er sank neben ihr nieder, nahm ihren feuchten, schwer atmenden Körper in die Arme und teilte ihr Leid.
Und so schliefen sie in Angst und Verwirrung verbunden ein. Die Dämmerung war boshaft, war wolkenlos und hell. Tallow taten die Augen weh.
Miranda lag weiter in unruhigem Schlummer, war jedoch kurz vor dem Erwachen.
Tallow versank in innerer Einkehr, konnte aber nicht erkennen, wie der geistige Widerspruch ein Ende finden mochte. Er liebte Miranda, doch die Barke winkte. Von Miranda unbelastet, konnte er die Barke noch immer aufspüren. Er war verantwortlich für sie. Konnte er das ablehnen, um dem Schicksal, das er für das seine ansah, gerecht zu werden? Er war für sich selbst oder für sie verantwortlich. Er konnte sich keinen Ausweg erdenken.
Er wußte nicht weiter. Die Worte lärmten unaufhörlich durch
seinen Kopf. Die Unentschlossenheit marterte ihn und er
schöpfte seine Kräfte.
Er begriff nicht.
Als Miranda seufzte und sich mühte, zur Besinnung zu kommen, stieg in ihm ein überwältigendes Gefühl des Mitleids für sie auf. Dann blickte er hinaus auf den Fluß, der sich bis
zum Horizont hin erstreckte. Gold blinkte. Tallow handelte. Jetzt oder nie.
Er nahm Miranda in seine Arme und hob sie hoch. Sie lächel
te im Schlaf vor Liebe. Er riß sie von sich los und schleuderte
sie hinaus, schleuderte sie in den Fluß.
Sie schrie plötzlich entsetzt auf, begriff.
Sie schlug im Wasser wild um sich, rief seinen Namen, flehte ihn an, beschwor ihn aus Schrecken vor den Folgen seines Handelns.
»Ich kann ohne dich nicht leben!« Die Worte, eine Redewendung, die Tallow schon lange kannte, hatten eine Bedeutung, die ihm noch nie aufgegangen war. Das waren keine leeren Worte, es waren Worte der Verzweiflung, die aufrichtig und ehrlich ausgestoßen wurden.
Er schluchzte, flehte sie an aufzuhören. »Es muß sein!« sagte er immer wieder. »Du wirst mich zerstören.«
»Die Liebe! Jephraim! Ach Gott, Jephraim, nein, bitte, bitte, Jephraim!«
Ihre Worte waren verwirrt, der Ton verzweifelt. Sie liebte ihn.
Er preßte sich die Hände an die Ohren, verschloß sich gegen ihre Schreie. Sein Schmerz war jedoch groß.
»Meine Geliebte«, wimmerte er. »Meine Liebe …«
Bald konnte er ihre Stimme nicht mehr hören. Er blickte mit verschleierten Augen zurück. Er starrte auf einen Punkt im Wasser, der weit hinter ihm lag. Es war ihr Kopf. Er wollte nicht lange hinschauen, weil er Angst hatte, er könne den Kopf untergehen sehen. Da begriff er, was er getan hatte. Doch es war schon viel zu spät. Er zog sich wieder in sich selbst zurück. Er segelte weiter, die Barke noch vor ihm, noch weit entfernt, bis schließlich der Schmerz nachgelassen hatte. Die Augen waren auf die glitzernde Barke gerichtet, der Verstand war leer, und Tallow verdrängte seine Furcht.
Achtes Kapitel
T allow der Zerstörer, der Stümper, der Träumer, Tallow,
das Zerrbild, segelte weiter, aber das Schiff war wieder
verschwunden, und er konnte es nicht sehen. Eine Woche verstrich, und Mirandas Elend, seine eigenen Schmerzen wurden zu einem Gefühl, das von seinem Verstand wieder einmal auf kühle Art logisch, leidenschaftslos und unbarmherzig zerstört werden mußte. Er fuhr unbekümmert um seinen Verlust weiter, bis er eine große steinerne Stadt erreichte. Ihre gesichtslosen, mehrstöckigen Gebäude ragten eng zusammengequetscht in den grauen Himmel, und in den schmalen Schluchten zwischen ihnen lagen Straßen, in die nie ein Lichtstrahl drang. Die Stadt lag wie ein Schandfleck am Ufer, verunstaltete die Landschaft. In ihr gab es jedoch Läden, welche die Nahrungsmittel verkauften, nach denen Tallow lechzte. Nachdem er gleich neben den Kais angelegt hatte, lief er auf die mauerbewehrte Stadt zu.
Tallow blieb vor dem Haupttor der Stadt stehen. Ein Mann
bedrohte ihn mit einem Gewehr. Am Ende der Waffe war ein
langes, spitzes Bajonett aufgepflanzt. Der Mann hatte ein
grobes Gesicht, einen ungeschlachten Körper, und er war
ungehobelt.
»Halt!« knurrte er. »Wer sind Sie?«
»Tallow.«
»Und?«
»Ich heiße Tallow, ich bin Reisender, komme durch Ihre Stadt. Ich brauche Vorräte und hoffe, sie hier kaufen zu können.«
Der Mann überlegte, das Bajonett immer noch auf Tallow gerichtet. Er sah ihn von Kopf bis Fuß an, als sei der kleine Mann ein Stück Fleisch fragwürdiger Herkunft, und trat schließlich zögernd beiseite. »Na schön«, sagte er. »Geh rein. Aber
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