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Die goldene Barke

Die goldene Barke

Titel: Die goldene Barke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Moorcock
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näherte, bemerkte er, daß die Felder in der Umgebung öd waren. Die Bäume waren verfault, und über der ganzen Gegend hing ein übler Geruch. Ab und zu kam Tallow an einem toten Tier vorbei, auf dem es von Fliegen wimmelte. Verwesende Kühe, Pferde, Schafe und Schweine waren über die Landschaft verstreut. Wild war auch zu sehen, Rehe, Kaninchen und Hasen, alle im selben Zustand wie die Haustiere.
    Bald lagen die Kadaver in Haufen am Straßenrand, und ihre verfaulenden Häute wiesen die Merkmale irgendeines Aussatzes, einer Seuche auf. Und überall waren Fliegen, große, fette Fliegen, die sich auf den stinkenden Überresten gütlich taten. Es sah wie auf einem Schlachtfeld aus, auf dem die Kämpfenden nicht Menschen, sondern ritterliche Maultiere und stolze Schweine gewesen waren. Je weiter Tallow kam, und je mehr Kadaver sich türmten, um so größer wurde die Gefahr, daß er sich übergab. Ein- oder zweimal sah er auch menschliche Leichname.
    Tallow fragte sich, ob es klug war, die Suche fortzusetzen. Einer Seuche, die so viele getötet hatte, sollte man lieber aus dem Weg gehen. Aber er fühlte sich jetzt für das Kind verantwortlich. Auf dem Boot wäre es eine Belastung geworden. Vor Tallow lagen die grauen Strohdächer eines Dorfes, und darüber hing Rauch, der sich wie eine schauerliche Fledermaus in das Gelände verkrallt hatte. Eine Meile weit schien es nur verschiedene Töne von Grau zu geben. Aus dem Dorf war jede andere Farbe verschwunden. Je näher Tallow dem Ort kam, um so lauter wurde das Prasseln des Feuers, um so stechender wurde der Geruch verbrannten Fleisches.
    Ihm fielen die Hexenverbrennungen seiner Kindheit ein. Ja, es roch so ähnlich. Aber es waren keine Schreie und kein Gelächter zu hören. Die Hexe war offenbar schon gebraten, wenn es das war, was da brannte.
    Tallow versuchte durch den Qualm, der von Tod kündete, zu spähen, aber es war wenig zu erkennen. In der Düsternis konnte er nur flackerndes Feuer und ein paar hin und her laufende Gestalten ausmachen.
    Dann erblickte er sie: zerlumpte Skelette, die sich wie eine Woge auf das Feuer zu bewegten und sich wieder zurückzogen. Sie warfen Bündel in die Flammen.
    Tallow war entsetzt. Der Geruch des Todes hatte überall die Luft verpestet. Als Tallow sich den knochendürren Gestalten näherte, wandte sich eine von ihnen um und erblickte ihn. Ihm wäre fast übel geworden. Von dem Mann schien fast das ganze Fleisch abgefallen zu sein, und dennoch lebte er. Sein Gesicht war mit grünen, violetten und gelben Flecken übersät. Seine Augen starrten aus dunklen Höhlen hervor.
    »Was möchten Sie?« fragte der Mann mit hohler Stimme.
    »Ich bringe ein Kind, das ich im Wald fand. Es ist dort ausgesetzt worden.«
    »Bringen Sie es fort, gehen Sie, solang Sie noch dazu in der
Lage sind.«
»Ich kann es aber nicht behalten.«
»Wir auch nicht.«
»Es gibt hier doch sicher eine Frau, die es an sich nehmen
kann.«
»Nein.«
»Es muß eine geben.«
    »Es gibt hier keine Frau, die genug zu essen hat, um ein
    fremdes Kind zu ernähren.«
»Sind Sie der Vorsteher des Dorfes?«
»Nein.«
»Dann möchte ich ihn sehen.«
»Er ist tot.«
»Ist er an der Seuche gestorben?«
»Nein, verhungert.«
»Wenn das Baby bei mir bleibt, wird es ebenfalls verhun
gern. Das wollen Sie doch sicher nicht.«
»Ich kann da nichts machen.«
Tallow zwängte sich an den Dorfbewohnern, die ihn starr
anblickten, vorbei auf eine Frau zu. Sie sah ihn teilnahmslos
an.
»Nehmen Sie das Kind?«
»Nein.«
Tallow sah sich verzweifelt im Kreis der Totenschädel um.
»Jemand muß das Kind nehmen!«
Keine Antwort.
»Wo ist das nächste Dorf?«
Ein Arm zeigte nach Westen.
»Fünf Meilen.«
    »Ihr Lumpen, ihr herzlosen Scheusale! Möge euch die Pest verderben!«
    Dann wandte sich Tallow nach Westen, rannte los, und das Körbchen lag schwer in seinen Armen. Die Skelette sahen ihm nach, wie er sich entfernte, und eines von ihnen lächelte; der Mund war ein klaffender Spalt.
    Tallow lief, bis er nur noch den langsam aufsteigenden Rauch über dem Dorf sehen konnte. Dann blieb er einen Augenblick stehen, bevor er mit großen Schritten weiter nach Westen eilte.
    Er spürte die Galle in sich aufsteigen und dachte immerzu über die Sicherheit des Bootes nach, das er am Meilen entfernten Ufer des Flusses zurückgelassen hatte.
    Er sah, daß es zum nächsten Dorf nicht mehr weit war. Der Rauch, der über einem Tal schwebte, zeigte ihm, wo es lag. Es handelte sich um ein größeres Dorf, mit noch

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