Die goldene Barke
nachdem er der Barke doch so nahe gewesen war. Er begriff, daß er es nur für das abstoßende Kind getan hatte. Obwohl seine Hoffnungen zerstoben waren, konnte er nach allem, was er getan hatte, Shoorom nicht verlassen oder ertränken. Das einzige, was zu tun blieb, war, den Jungen zurückzubringen. Tallow wanderte mürrisch und freudlos langsam zum Präsidentenpalast.
Als er das Gebäude erreichte, gelangte er in seine Wohnräume, ohne jemandem zu begegnen, wenn man von ein paar Beamten und Soldaten absah. Es gab viele Leute, die hin und her eilten, und ihren Bewegungen war anzusehen, daß etwas Dringliches in der Luft lag. Viele hatten Papiere oder Akten bei sich, einige trugen zusammengerollte Karten unter den Armen. Offensichtlich stand der erwartete Angriff Hyrioms kurz bevor. In seinen Zimmern fand Tallow eine Nachricht vor. Auf sie war Wein vergossen worden, der jetzt eingetrocknet war. Die Nachricht war an ihn adressiert. Er öffnete sie mit gerunzelter Stirn.
LIEBER JEPHRAIM,
WENN DU ZURÜCKKOMMST, BLEIB BITTE HIER, BIS ICH KOMME.
Miranda
Tallows Stirn lag noch immer in Falten, als er die Nachricht in die Tasche schob. Aus Neugier blieb er zwei Stunden lang in der Wohnung, und dann kam Miranda.
»Hallo, Jephraim.« Sie lächelte und küßte ihn rasch, als habe sie ihn nur ein paar Stunden nicht gesehen. »Wann bist du zurückgekommen?« »Gerade eben. Was bedeutet deine Nachricht?«
»Ach, die. Ich schrieb sie vor einer Woche. Oberst Zhist wollte dich sprechen. Es war damals dringend. Wo bist du gewesen?«
»Ich habe eine Reise auf dem Fluß gemacht. Ich habe wieder die Barke gesehen.«
Miranda war schlicht überrascht. »Warum bist du dann zu
rückgekommen?«
»Ich weiß es nicht genau.«
»Wolltest du mich sehen? Sag! Oder hat Zhist dich endlich überzeugt, und du bleibst? Ach, Jephraim, ich hoffe das wirklich. Wirst du jetzt bleiben? Ich bin sehr glücklich.« Sie strahlte, wie sie in den Monaten ihres Zusammenseins gestrahlt hatte. Er konnte ihr keine Antwort geben. Er wagte es nicht, denn er hätte ihr nur wahrheitsgemäß antworten können, und diese Wahrheit hätte sie in ihrer jetzigen Stimmung verletzt. Sie wollte so offenkundig glücklich sein. Er entschloß sich zu warten, bis sie sich in einer anderen Geistesverfassung befinden würde. Inzwischen konnte er sich genausogut damit beschäftigen, Oberst Zhist nach besten Kräften zu helfen. Das würde ihm die Mühe ersparen, Dinge erklären zu müssen, und würde ihn selbst, Tallow, davon abhalten, zuviel nachzudenken. Er nahm Miranda bei den Schultern, stellte sich auf die Zehenspitzen und küßte sie auf den Mund. Sie erwiderte seinen Kuß heftig und, wie immer, unersättlich. Später fragte er sie: »Wo ist Zhist jetzt?«
Sie erwiderte: »Im großen Saal. Krieg steht bevor und damit Zhists Prüfung. Die Leute erwarten von ihm, daß er sie vor den Nachstellungen Hyrioms schützt. Wenn er Erfolg hat, ist er ohne jeden Zweifel ihr Held. Wenn er versagt, wird die Nation so oder so unterdrückt, und ihr Glaube an Zhist als Führer wird zerstört sein. Er wird dann keine Möglichkeit haben, sie um sich zu scharen. Ich möchte gar nicht daran denken, was dann geschehen könnte.« Tallow hörte es sich ohne innere Anteilnahme an.
Bald begann ein widerlicher Plan in seinem Hirn Gestalt anzunehmen, und obwohl ein Teil von ihm den Gedanken erstikken wollte, sagte ein anderer Teil, daß er, wenn Zhist erledigt wäre, keinen Grund mehr hätte, in der Stadt zu bleiben. Niemand würde ihn dann mehr in seiner Gleichgültigkeit stören, keiner würde ihn mehr aufhalten. Er hoffte aber, daß Zhist irgendwie umkommen würde, daß der Krieg ihm, Tallow, einen Vorwand liefern würde. In dem Durcheinander würde er
fliehen, und Miranda würde glauben, er sei tot. Er würde sich all dessen, was ihn behinderte, entledigen können. Alles das ging ihm durch den Kopf, während er Miranda zum Bett führte und anfing, ihr die Bluse aufzuknöpfen. Es war eine Entscheidung zu treffen, und jetzt glaubte er, sie getroffen zu haben.
Sechzehntes Kapitel
J ephraim, ich bekomme ein Kind.« Miranda blickte Tal
low lächelnd in die Augen. »Es ist von dir.« »Wunder
bar!« rief Tallow mit halbem Herzen. Neue Verwicklun
gen bahnten sich an, die ihn niederdrücken und seinen Lauf aufhalten würden. »Wann ist es soweit?« »In vier Monaten.« Tallow fielen die passenden Worte nicht ein. Während der letzten Tage hatte er sich ständig in sein altes, introvertiertes
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