Die goldene Barke
fliehende, unscheinbare Kinn, die großen Augen hatten den harten Ausdruck eines Reptils. Sprach er, so klang das heiser und belegt, die Stimme war unrein. »Was habe ich getan?«
»Ich wüßte nicht, was«, sagte Tallow. »Warum bist du nicht
zu Hause?«
»Ich hab’ kein Zuhause mehr.«
Tallow nickte stumm und wußte nicht, was er darauf antworten sollte. Er fragte sich, warum er das Kind gestört hatte, und zugleich versuchte er, sein Alter zu schätzen. Seiner Größe nach war es ungefähr neun oder zehn Jahre alt. Das Gesicht konnte das eines neugeborenen Kindes, eines erwachsenen Mannes oder eines Neunzigjährigen sein. Man konnte es nicht sagen.
»Warum sind Kisten immer eckig?« wollte der Junge plötzlich wissen.
»Das ist die einfachste Art, sie zu machen«, antwortete Tallow.
»Warum machen sie sie nicht in verschiedenen Formen? Das wäre besser.«
»Möglich«, sagte Tallow nachgiebig und wollte gehen. Der Schildkrötenjunge wandte sein häßliches Profil dem Himmel zu. Schweigend blickte er die Sonne an. Tallow war von ihm fasziniert. Ihm war nie eingefallen, daß Kinder so häßlich sein könnten. Gewöhnlich waren Kindergesichter undefinierbar, gelegentlich angenehm, gelegentlich schön. Gesicht und Körper des Jungen waren insgesamt abstoßend, vor allem die gelben Augen, die sich jetzt bewegten, um Tallow anzusehen. Tallow starrte zurück, weil ihm nichts anderes einfiel. Sie standen in der Mitte der Straße und blickten sich in die Augen. Tallow fühlte sich seltsam verwandt mit dem reizlosen Kind und sagte schließlich gegen seinen Willen: »Wir sind Ausgestoßene, du und ich.«
Die Stimme des Jungen kam wie aus der Ferne, war schwerfällig und erinnerte an einen Traum. »Freunde«, sagte er. »Sind wir Freunde?«
»Nein, wir sind keine Freunde. Wir könnten nie Freunde sein. Sind die Hunde untereinander befreundet?« »Die Hunde mögen mich nicht.«
»Ich mag sie auch nicht«, sagte Tallow unbestimmt und kam
sich hilflos gefangen in dem Gespräch vor. »Du bist absto
ßend.«
»Bedeutet das ›schlecht‹?«
»Nein.«
»Niemand mag mich. Meine Tante sagte, ich habe den bösen Blick. Ich kann so gut sehen wie meine Tante. Meine Mutter schmiß mich raus, als mein neuer Vater kam. Ich will nicht geliebt werden, aber es ist schwer.« »Weiß ich.«
»Was soll ich tun? Ich finde mich nicht zurecht. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Was soll ich tun?«
»Bleib hier. Dir geht’s besser an einem Ort, den du kennst. Vielleicht wird alles leichter, wenn du älter geworden bist.« Während sie redeten, blieben ihre Augen aufeinander gerichtet. Sie sahen sich an, als hätte jeder seinen vollkommenen Zwilling getroffen, den er noch nie gesehen hatte. Und doch gab es Unterschiede. Tallow wußte, daß das Kind ihm nicht genug glich, um ein Gefährte zu werden, aber ihm doch zu ähnlich war, als daß es übersehen werden würde. Er hatte nie gedacht, daß es jemanden geben konnte, der ihm so nahestehen würde. Er fragte sich, ob es noch andere gäbe, andere Ausgestoßene, Unangepaßte, die ziellos das Dasein durchwanderten. Wenn es sie gab, warum sollte er ihnen nicht von seiner Barke, seinem Ziel erzählen?
»Es gibt eine Barke, die den Fluß entlangfährt«, teilte Tallow dem Jungen mit. »Sie ist groß und golden, und die Strömung kann ihr nichts anhaben, auch der Wind nicht. Sie bewegt sich zielsicher. Sie fährt irgendwohin, und wenn du mit ihr am Ort ihrer Ankunft bist, kann sie dir helfen. Wenn du die Möglichkeit hättest, würdest du ihr folgen?« »Nein«, antwortete der Junge ruhig. »Weshalb?«
»Weil du dann auch ein Ziel hättest. Begreifst du nicht, daß dir die Barke helfen würde?«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen. Wie kann mir ein Schiff auf dem Fluß helfen? Wird meine Tante aufhören, mich zu beschimpfen, wird mich meine Mutter wieder zu sich nehmen, wenn ich das Schiff sehe? Was könnte es mir denn Gutes tun?« »Wenn ich sie dir zeige, wirst du es wissen. Ganz bestimmt.« »Sie sind ein Mann. Ich bin ein Junge. Das ist nicht dasselbe. Wir sind verschieden.«
»Nur dem Alter nach. Eines Tages werde ich dir die Barke zeigen. Wenn ich abreise, kommst du mit mir, und du wirst finden, was ich gefunden habe.«
»Aber was wird es mir nützen? Was hat das Schiff Ihnen genützt?«
»Noch nichts«, sagte Tallow traurig. »Noch nichts. Aber es wird etwas Gutes für mich tun. Kennst du noch andere, die so wie du sind?«
»Meine Schwester«, erwiderte der Junge. »Sie ist
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