Die goldene Königin
Schlafwandlerin, die nicht wusste, wohin, raste sie an der Loire entlang. Doch Alix kannte den Weg nach Paris. Um nach Brügge zu gelangen, wie Mathilde in ihrer Nachricht geschrieben hatte, musste man die Hauptstadt passieren. Alix fühlte sich kein bisschen müde. Sie war wütend, weil sie sich machtlos gegenüber dem rücksichtslosen Verhalten ihrer Tochter fühlte, und bereit, die Last dieser beschwerlichen Reise auf sich zu nehmen.
Wenn sie in diesem Tempo weiterritt, erwischte sie Mathilde mit etwas Glück vielleicht vor Orléans, aber auch, wenn sie ohne Pause bis nach Chartres oder Paris reiten musste, würde sie es tun.
»Nein! Das ist zu einfach, Mathilde«, schimpfte sie, während sie ihre Stute immer weiter antrieb. »So einfach wirst du mich nicht mehr los. Wenn es sein muss, finde ich dich am Ende der Welt, und dann verbiete ich dir, noch einmal fortzureiten. Marguerite und ich werden dich zu einer Heirat zwingen, und dann musst du an deinem Herd bleiben und zusehen, wie deine Kinder heranwachsen.«
Ihr Ritt wurde immer kühner und riskanter. Sie umklammerte die Flanken von Césarine so fest wie noch nie zuvor. Die Nacht war schwarz wie Tinte, aber das war ihr egal. Alix war schon so häufig in dunkler Nacht geritten, dass sie überhaupt nicht darüber nachdachte.
Bei diesem Höllentempo erwies sich der Sturz als verhängnisvoll. Alix war keine zwanzig mehr. Sie ritt nicht mehr so viel wie in ihrer Jugend, und ihre Reflexe und ihr Durchhaltevermögen hatten nachgelassen.
Es geschah, als das Pferd, berauscht von der Geschwindigkeit, die Kontrolle verlor. Alix ritt in den Wald von Orléans, als Césarine mit dem Huf mitten auf dem Weg gegen eine Wurzel stieÃ. Die Stute stürzte und warf Alix hart auf den Boden. AnschlieÃend schlug das Pferd mehrmals auf der Erde auf, richtete sich wieder auf, glitt zur Seite, prallte gegen einen Baumstamm, rutschte noch weiter und wieherte vor Schmerz. Mit zwei gebrochenen Beinen und einem zertrümmerten Schädel hörte Césarines Herz auf zu schlagen, während Alix in tiefe Bewusstlosigkeit fiel.
Erst im Morgengrauen fanden Properzia, Mathias und Nicolas sie. In der Nacht hatten sie die Seitenränder der StraÃe nicht erkennen können. Als der Himmel sich langsam dunkelblau färbte und davon kündete, dass der Tag nicht mehr lange auf sich warten lieÃe, schrien alle im selben Moment auf, als sie den groÃen Körper von Césarine entdeckten.
Mathias stieg hastig vom Pferd und lief wie ein Wahnsinniger zu der Stute.
»Sie ist tot«, murmelte er mit bebender Stimme.
Er fing wie verrückt an zu schreien und suchte den Boden sowie die sandigen und bewachsenen Stellen am Ufer der Loire nach einer Spur von seiner Frau ab. Nicolas folgte ihm auf Schritt und Tritt und durchsuchte noch einmal die Stellen, die Mathias gerade mit Hilfe eines Stocks bearbeitet hatte.
Properzia ging methodischer vor. Mit einer Fackel in der Hand beleuchtete sie die Stellen, an die das schwache Tageslicht noch nicht herankam, und versuchte Alixâ Kleidung auszumachen, die sie an jenem Morgen getragen hatte, der so harmonisch und entspannt verlaufen war. Sicher hatte Alix keine Zeit gehabt, sich umzuziehen, und trug noch dasselbe Kleid, dessen Oberteil weit offen gestanden hatte.
»Da!«, rief sie, »da!«
Verrückt vor Angst, ihre Freundin womöglich tot vorzufinden wie Césarine, stockte Properzia der Atem. Eine Hand auf die Brust gelegt, lief Properzia zu ihrer Freundin. Sie lag auf dem Rücken in einem See aus Blut. Noch bevor Mathias hinzukam, beugte sich Properzia mit leichenblassem Gesicht und klopfendem Herzen über Alix und vernahm ein leises Atmen.
»Sie lebt!«, rief Properzia Mathias zu, der mit verängstigtem Blick herbeistürzte. »Sie atmet.«
Properzia hob den Kopf, sah, dass Mathias wie benommen wirkte und rief: »Beruhigt Euch, Mathias, Eure Frau lebt. Sie hat nur ihr Kind verloren.«
Augenblicklich war Mathias wieder voll da.
»Ihr Kind!«, stotterte er. »Welches Kind?«
»Aber Eures natürlich!«, zeterte sie. »Von wem soll es denn sonst sein?«
Properzia hielt die Fackel über den ausgestreckten Körper von Alix. Die groÃe Blutlache unterstrich ihre Behauptung.
»Sie hätte es Euch heute oder morgen gesagt, Mathias«, erklärte Properzia erregt. »Schnell, bringt sie zurück. Wir dürfen keine
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