Die goldene Meile
Zöpfen und in bauchfreien Jeanshemden, kurzen Röcken und langen Strümpfen auf dem Laufsteg. Ihre Augen waren mit Lidschatten umrahmt, ihre Wangen beinahe clownesk mit Sommersprossen und Rouge beschmiert. Mit anderen Worten, sie posierten als Babynutten.
»Fertig?« Die Tennisspielerin war gebeten worden, die Ansage zu machen. Der Text war jetzt einfacher.
Die Tänzerinnen richteten sich auf. Sie waren vielleicht keine Bolschoi-Ballerinen, aber die Grundpositionen des Balletts waren ihnen bekannt.
»Erste Position!«, rief die Tennisspielerin.
Das erste Mädchen stand Ferse an Ferse, die Hände über der Taille am Oberkörper.
»Das kenne ich noch«, sagte Anja. »Jedes kleine Mädchen macht eine Ballettphase durch. Danach kommt Eislaufen und dann Sex.«
»Zweite Position!«
Das nächste Mädchen spreizte die Beine und breitete die Arme in Schulterhöhe aus. »Dritte Position!«
Das dritte Mädchen drückte die Beine zusammen und stellte die rechte Ferse vor den linken Fuß. Sie streckte den linken Arm aus und hob den rechten leicht gebogen über den Kopf.
»Fünfte Position!«
Die Beine gekreuzt. Der rechte Fuß am Innenrist des linken. Beide Arme erhoben.
»Was ist mit der vierten Position?« Anja sah Waksberg an.
Jemand unter den Zuschauern vermutete, die Tennisspielerin habe sich vertan, und schrie: »Wir wollen die vierte Position!«
Die Menge nahm den Ruf auf. Scherzhaft, aber doch höhnisch stampften sie mit den Füßen und schrien im Chor: »Wir wollen die vierte! Wir wollen die vierte!«
Die Tennisspielerin brach in Tränen aus.
Waksberg seufzte. »Jetzt geht's wieder mit Wimbledon los. Ich muss mich darum kümmern.«
Ein Spot folgte ihm auf die Bühne. Arkadi beobachtete, wie sich ein geschlagener Mann unterwegs in den energisch zupackenden Sascha Waksberg verwandelte, der die Stufen zur Bühne hinaufsprang und das Mikrofon ergriff. Der Mann besaß Bühnenpräsenz, dachte Arkadi. Die Menge johlte, aber er starrte sie nieder. Er lächelte sie nieder.
»Ihr wollt die vierte sehen?«
»Ja!«
Er streifte das Jackett ab und reichte es der Tennisspielerin. »Ich kann euch nicht hören. Ihr wollt wirklich die vierte sehen?« »Ja!!«
»Was für ein jämmerlicher Chor. Ihr seid eine Schande für die Stadt Moskau. Zum letzten Mal: Wollt ihr die vierte Position sehen?«
»Ja!!!«
Waksberg führte sie vor, ohne eine Miene zu verziehen. Den rechten Fuß nach außen gerichtet, den linken dahintergestellt, die linke Hand auf der Hüfte, den rechten Arm triumphierend oder graziös erhoben.
Das Publikum reagierte mit Schrecken und Entzücken. Sascha Waksberg als Clown? Er hatte den ganzen Witz an sich gerissen und drehte ihn um, bis der Applaus kam, erst von den alten Löwen auf den oberen Rängen, dann auch von den jungen Leuten auf der Tanzfläche. »Bravo!« und »Zugabe!«, riefen die Leute.
»Ein Komödiant ist er auch?«, fragte Arkadi.
»Er hat immer noch ein paar Überraschungen im Ärmel. Wenn die Gäste heute Abend nach Hause gehen, reden sie vielleicht von einem Bugatti für ihn und einer Bulgari für sie, aber Sie können sicher sein, dass sie vor allem über einen sorgenfreien Sascha Waksberg reden.«
»Er hat ziemliches Glück.«
»Sascha sagt, sein Glück macht sich jeder selbst.«
Arkadi brauchte eine Sekunde, um zu kapieren.
»Sie meinen, das war inszeniert? Die ganze Nummer? Die weinende Tennisspielerin und so weiter? Wie kann er auf eine solche Idee kommen?«
»Weil er Sascha Waksberg ist. Zeigen Sie mir noch mal das Foto.«
Während sich Waksberg immer wieder verbeugte, betrachtete Anja die Großaufnahme genauer. Die Flecken auf der Matratze und die verschmierte Wimperntusche konnten nicht verbergen, wie schön das Mädchen war, den starren Blick scheinbar zu den Wolken hinaufgerichtet.
»Das ist Vera!«, stieß Anja hervor. »Die vermisste Tänzerin. «
»Vera, und wie weiter?« »Das weiß ich nicht.«
»Sie sind doch eine gründliche Reporterin. Vielleicht steht es auf Ihrem Notizblock.«
»Ja, bestimmt.« Anja blätterte in ihrem Block. »Hier, das ist die Liste der Tänzerinnen aus dem >Nijinski<. Sie beginnt mit Vera Serowa.« Sie hielt inne und sah Arkadi plötzlich mit ganz anderen Augen an. »Auf einmal klingen Sie wie ein richtiger Ermittler.«
ZWÖLF
Schenja und Maja teilten sich eine Tüte Chips im Nachtcafe im Jaroslawler Bahnhof, und er zeigte ihr, wie ihr neues Handy funktionierte. Sie schrie zu laut hinein, weil es keine Schnur hatte.
»Ich
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