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Die goldene Meile

Die goldene Meile

Titel: Die goldene Meile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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Kerl, den ich kenne. Wie heißt die Hauptstadt von Madagaskar? Jede Menge Kartentricks? Lauter solche Sachen hat er drauf. Aber das Problem mit dem Genie ist, dass er in seiner eigenen Welt lebt. Ich glaube, er kennt keine zehn Leute. Du hättest dir keinen Ungeeigneteren aussuchen können. So wirst du dein Baby nie finden. Aber ich kann es.«
    Jetzt musste sie fragen.
    »Wie?«
    »Man kauft es. Das ist es, was wir tun, die Jungs und ich. Wir beschützen Dinge oder bringen sie zurück. Gestern Nacht, das mit dem Kanadier, das war eher Spaß. Kommt selten vor. Wir hören alle Gerüchte und Neuigkeiten, wir bewerten sie, wir reagieren. Zum Beispiel: Du hast die Schaffnerin nach Tante Lena gefragt. Wir würden sie aufspüren. Wir sind ein Netzwerk, genau wie die Polizei, aber weniger teuer. Du willst doch nicht vor Gericht landen, oder? Dann schicken sie dein Baby nach Amerika, und du siehst es nie wieder.«
    »Was ist mit Schenjas Freund, dem Ermittler?«
    »Der ist ein Wrack. Ich würde ihn nicht mal in die Nähe eines Babys lassen.«
    »Und wie viel? Was würde es kosten?« Sie glaubte kein Wort von dem, was er sagte, aber es konnte nicht schaden, Bescheid zu wissen.
    »Na ja, in so einer Situation kommt es auf jede Sekunde an. Wir würden sofort alle unsere Ressourcen einsetzen, und zwar fulltime. Für den Anfang fünfhundert Dollar. Nach sämtlichen Verhandlungen und einer zufriedenstellenden Übergabe wären's dann eher fünftausend. Aber ich garantiere dir, du kriegst dein Baby.«
    »So viel Geld habe ich nicht. Ich habe überhaupt kein Geld.«
    »Keine Freunde oder Verwandten, bei denen du etwas borgen kannst?« »Nein.«
    »Letzte Nacht hast du gesagt, du hast einen Bruder.« »Ich habe aber keinen.« »Schade. Vielleicht...« »Vielleicht was?«
    »Vielleicht könnten wir uns irgendwie einigen.« »Wie denn einigen?«
    Jegors Stimme wurde heiser, und er beugte sich so dicht zu ihr herüber, dass sein spärlicher Bart sie am Ohr kitzelte. »Du arbeitest es ab.« »Womit?«
    »Mit dem, was der Kunde so verlangt. Ist ja nicht so, als wärest du noch Jungfrau.«
    »Ist aber auch nicht so, als wäre ich eine Nutte.«
    »Sei nicht gleich sauer. Ich wollte dir bloß einen Gefallen tun. Du musst ja verrückt werden, wenn du dir vorstellst, was sie mit deinem Baby machen. Ob sie es füttern? Die Windeln wechseln? Ob es überhaupt noch lebt?« Er stand auf. »Ich bin in zwei Stunden wieder hier, falls du es dir anders überlegst.«
    »Fahr zur Hölle.«
    Jegor seufzte wie einer, der sein Bestes getan hatte. »Ist dein Baby.«
     
    Mitten im Spiel dachte Schenja an Maja. Früher oder später würde sie der Miliz auffallen, wenn sie sich so in der Halle herumtrieb - vielleicht dem Leutnant, dem sie weggerannt war, als Schenja sie das erste Mal gesehen hatte: grellrotes Haar mitten im Gedränge. Wenn sie ohne Ausweis erwischt wurde, würde man sie in Jugendgewahrsam nehmen, und da könnte man sie ein Jahr festhalten, bevor sie einen Richter zu sehen bekäme oder in ein Kinderheim gesteckt würde, wo man sie noch länger einsperren könnte. Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass sie sich vielleicht gar nicht herumtrieb. Vielleicht war sie mit ihrem Rasiermesser unterwegs in die Metro.
    Henrys Spiel war unterdessen raffinierter geworden, und er schlug kleine Vorteile heraus: Er blockierte Schenja mit Doppelbauern und erzwang den ungleichen Tausch eines Läufers gegen einen Springer.
    »Schach!«
    Schenja war in bangen Gedanken versunken. Er sah Maja auf einem Metro-Bahnsteig vor sich. Es war mitten in der Hauptverkehrszeit, und die Menge hatte sie über die Sicherheitslinie hinausgedrängt. Was wusste sie als Mädchen vom Lande über Taschendiebe und Perverse? Vor allem in der Stoßzeit wurden Frauen begrabscht. Es gab Unfälle. Die Uhr über dem Tunnel zählte die Sekunden bis zum nächsten Zug. Schon spürte man den Luftzug, und das Licht der Scheinwerfer kam näher. Die Menge drängte voran, und niemand machte es den aussteigenden Fahrgästen leicht. Irgendwo kam heftige Bewegung auf. Rufe und Schreie. »Schach«, wiederholte Henry.
    Schenja fuhr aus seinen Tagträumen hoch. Die Maja aus Fleisch und Blut erschien am Büfett. Ihr Gesicht lag im Schatten der Kapuze, und man sah nicht, in welcher Stimmung sie war. Er war erleichtert, und gleichzeitig fragte er sich unwillkürlich, wo sie gewesen sein mochte. Außerdem warf er jetzt zum ersten Mal einen aufmerksamen Blick auf das Schachbrett und erkannte, dass auf seiner Uhr

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