Die Goldenen Regeln des friedvollen Kriegers
damit anfangen? Jetzt bin ich hier, auf der Fahrt nach Hause.
Eine Woche später, als ich im Supermarkt in der Schlange stand, drehte ich mich um und sah meinen Zahnarzt direkt hinter mir stehen. Die Kassiererin nahm mir mein Geld ab und stellte meine Tüten in den Einkaufswagen, aber ich merkte es kaum. Als ich auf den Parkplatz hinaustrat, stellte ich mir die schmerzhafte Prozedur vor und spürte den Einstich der Nadel. . . Da fuhr ein geistesabwesender Autofahrer rückwärts aus einer Parklücke, ohne nach hinten zu schauen, und hätte mich mitsamt meinem Einkaufswagen und Lebensmitteln im Wert von fünfzig Dollar beinahe überfahren. Blitzartig stimmte ich mich wieder auf die Gegenwart ein. Der Autofahrer entschuldigte sich und sagte, er sei mit seinen Gedanken woanders gewesen. Zurück zur Gegenwart: Warum soll ich mir jetzt schon Sorgen wegen des Zahnarztbesuchs machen? Es reicht doch immer noch, wenn ich mir in einer Woche hilflos vorkomme. Jetzt brauche ich noch nicht daran zu denken. Ich vergaß den Zahnarzt wieder.
Eine weitere Woche verstrich. Eines schönen Morgens wachte ich auf, und schlagartig kam mir zum Bewußtsein: Heute ist es soweit. Das Dröhnen des Bohrers in meinem Kopf übertönte das Vogelgezwitscher vor meinem Fenster. Dann sagte ich mir: Schau dir nur diesen herrlichen blauen Himmel an! Im Augenblick ist doch alles in Ordnung. Heute nachmittag um zwei Uhr kannst du leiden, soviel du willst. Ich war wieder in der Gegenwart, räkelte mich und genoß die wärmenden Sonnenstrahlen.
Kurz vor zwei Uhr saß ich im Wartezimmer und versuchte mich auf einen Zeitschriftenartikel zu konzentrieren. Meine Hände zitterten nur ganz leicht, als ich im Hintergrund den
Bohrer hörte – den echten Bohrer. Ich verkrampfte mich innerlich, doch dann wurde mir klar: Warum verkrampfe ich mich eigentlich? Ich spüre doch gar keinen Schmerz. Ich sitze nur da und lese einen guten Zeitschriftenartikel. Dann kam die Sprechstundenhilfe herein und sagte: «Mr. Millman, bitte.»
« Was – schon?» Ein bißchen kam ich mir vor wie ein zum Tode Verurteilter, der aus seiner Zelle geholt wurde. Ich stand auf. Mein Herz sank in die Hose.
Dann lag ich auf dem Stuhl, hilflos und ausgeliefert. Mein Zahnarzt lächelte und machte einen Witz, aber ich hörte kaum zu. Ich war zu sehr damit beschäftigt, seine Hand mit der gefürchteten Spritze zu beobachten, die über mir schwebte. Jetzt war es soweit. Ich umklammerte die Armlehnen und bereitete mich innerlich auf den Einstich vor.
Nun fragte die Sprechstundenhilfe den Zahnarzt etwas. Er drehte sich zu ihr um und gönnte mir noch eine kleine Galgenfrist. Da wurde mir klar, daß doch eigentlich gar nichts passierte – jedenfalls nicht in diesem Augenblick. Noch immer kein Schmerz, nur ich, der sich in einem sehr teuren Stuhl zurücklehnte. Eigentlich konnte ich die Sache ebensogut genießen. Also entspannte ich mich.
Dann spürte ich einen kurzen, fast schmerzlosen kleinen Stich, und schon war es vorbei. Und deswegen all diese Sorgen. . . ? Als ich mich bei meinem Zahnarzt bedankte und auf die Tür zusteuerte, ging mir das alte Sprichwort durch den Kopf: «Ein Feigling stirbt tausend Tode ...»
Diese Geschichte zeigt, wie wir üben können, unsere Aufmerksamkeit im täglichen Leben immer wieder zur Gegenwart zurückzulenken. Das geht genau wie bei der Meditation: Wenn wir merken, daß unsere Aufmerksamkeit von der Gegenwart abgeschweift ist – normalerweise äußert sich das in beunruhigenden Gedanken-, führen wir sie behutsam wieder dorthin zurück. Wir erinnern uns daran, im «Hier und Jetzt» zu leben. Wie alles im Leben wird auch das mit der Zeit immer leichter. Diese einfache Praxis, immer wieder zum gegenwärtigen Augenblick zurückzukehren, hat meine Lebensqualität unvorstellbar verbessert.
Die Macht des gegenwärtigen Augenblicks
Wie kann etwas so Einfaches wie die Rückkehr unserer Aufmerksamkeit zum Hier und Jetzt die Problematik des Verstandes lösen, die in diesem Kapitel angesprochen wurde – die innere Anspannung, die Krankheiten und den Streß?
Zunächst einmal kann sich der Lärm unserer Gedanken ja nur auf die Vergangenheit oder auf die Zukunft beziehen. Es ist unmöglich, «über» etwas nachzudenken, was sich jetzt in diesem Augenblick abspielt. Wir können nur über etwas nachdenken, was schon passiert ist – sei es vor einer Sekunde, vor fünf Tagen oder zehn Jahren – oder was in der unmittelbaren oder ferneren Zukunft liegt. Liegt das nicht
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