Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
sie. Dazu dieser Ausdruck in seiner Miene, dieser bittere Zug um den Mund. War sie tatsächlich so, wie er behauptete? Hatte sie während der gemeinsamen Zeit wirklich nie auf seine Gefühle Rücksicht genommen, sie nicht einmal bemerkt?
Sie riss ein Büschel Weidelgras aus und zerdrückte die Ähren in der geballten Faust.
Baldo weiß, dass es nicht stimmt, dachte sie. Was erwartete er denn von ihr? Sollte sie diesem Fremden, der sich einfach so in ihr Leben gedrängt hatte, Glauben schenken und ihn als ihren Bruder anerkennen? Verstand er denn nicht, was es für sie bedeuten würde? Wäre es nicht Verrat an den geliebten Eltern zuzulassen, dass deren Ansehen beschmutzt wurde? Und dennoch … Cristin blickte auf die gekräuselte Wasseroberfläche, auf der sich Sonnenstrahlen in Regenbogenfarben spiegelten. Als sie in einiger Entfernung Männerstimmen vernahm, erhob sie sich, glättete ihr dunkles Gewand und schnippte ein paar Grashalme von dem groben Stoff. Langsam schritt sie mit gesenktem Kopf den Weg zurück zum Marktplatz.
Hatte ausgerechnet sie das Recht, sich über den Narren lustig zu machen, nur weil er sich schminkte und verkleidete? Auch ihre Aufmachung war nicht echt, ebenso wenig wie ihr Name. Auch sie spielte nur eine Rolle. Je näher sie dem lebhaften Trubel kam, umso zögernder wurden ihre Schritte. Der Marktplatz war voller Menschen, und sie sollte längst in ihrem Zelt sein. Eine schöne Spökenkiekerin war sie! Gab den Besuchern der Gaukler wohlmeinende Ratschläge, wie sie Krankheiten lindern oder den besten Ehemann für ihre Tochter finden konnten. Nur mit dem eigenen Leben und mit den beiden Männern kam sie nicht zurecht. Schämen solltest du dich, Cristin Bremer!
Nach dem Abendessen hatte Cristin nach Piet gesucht und ihn schließlich auf dem Marktplatz gefunden, wo er abseits der Stände mit angezogenen Beinen am Stamm einer Linde lehnte. Inzwischen war es dunkel und der Platz menschenleer, nur die allgegenwärtigen Tauben pickten noch die letzten Reste auf, bevor sie sich auf den Dächern und Mauervorsprüngen der Stadt niederließen. Cristin setzte sich neben ihren Bruder.
Er blickte auf. Piets Miene wirkte entrückt und spiegelte seine Empfindungen wider. »Das Leben war hart für uns«, sagte er unvermittelt. »Ich erinnere mich noch, wie der Wind durch die Holzbalken pfiff und wir uns um das Feuer kauerten, um im Winter nicht zu frieren.« Wehmut war aus seiner Stimme herauszuhören. »Ich durfte immer ganz nah am Feuer sitzen, so dicht, dass meine Füße heiß wurden. Mutter sagte, der Wind ist unser Freund. Er pustet die Samen der Blumen und Bäume auf die Felder, damit sie Medizin für die Kranken herstellen kann.« Er lächelte. »Wenn der Wind dann zum Sturm wird, ist er zornig. Ihn muss man ertragen wie einen unleidlichen Gemahl, erklärte sie mir.«
»Deine Mutter war klug. Aber hat sie nicht Geld genug bekommen, um die Hütte ausbessern zu lassen?«
Piet seufzte. »Du hast sie nicht gekannt, Cristin. Nein, das Geld deiner Ziehmutter hat sie nie angerührt. Allein von dem, was sie als Kräuterfrau verdiente, konnten wir mehr schlecht als recht leben.«
»Sie hat es nie angerührt?« Fassungslosigkeit ergriff die junge Frau. »Was hat sie damit gemacht?«
Das Weiß seiner Haare leuchtete im Schimmer des Mondlichts, als er den Kopf senkte und mit einem kleinen Stock im Sand stocherte. »Das Geld sollte für die Schule sein. Mutter wollte, dass ich lesen und schreiben lerne. Wie die Söhne der Kaufleute, die ihren Rat suchten, wenn sie krank waren.«
»Du bist zur Schule gegangen?«
»Nur so lange, bis ich die mitleidigen oder höhnischen Blicke der anderen Schüler nicht mehr ertragen konnte.«
Cristin spielte mit einem Zipfel ihres Kopftuches, um die Finger zu beschäftigen. »Deine Mutter muss dich geliebt haben. Sehr sogar, wenn sie alle Münzen für deine Schule zurückgelegt hat.«
»Uns hat sie geliebt, Cristin. Vergiss nicht, sie war auch deine Mutter.«
Nieselregen setzte ein, doch sie spürte nichts davon. »Wie kannst du das sagen, Piet?« Ihre Stimme klang gepresst. »Wenn es so wäre, hätte sie mich nicht fortgegeben, oder?« Sie schüttelte die Hand ab, die sich auf ihre legte.
»Sie hat es getan, weil sie dich liebte, Schwester!« Piets Gesicht rötete sich, als er ihr den Kopf zuwendete. »Hast du jemals gefroren oder Hunger gelitten? Musstest du je im tiefsten Winter auf dem Markt stehen, bis deine Beine gefühllos waren? Oder die Hänseleien
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