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Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)

Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerit Bertram
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und hielt sie fest. »Das ist zu gefährlich, begreifst du denn nicht?«
    »Er hat recht, Agnes.« Piets Miene war sorgenvoll. Selten hatte sie ihren Bruder so ernst erlebt. »Wir sollten verschwinden, und zwar schnell!«
    Ihr wurde kalt. Das konnte doch nicht ihr Ernst sein! Sie sollten gleichmütig weiterziehen, ohne auch nur den Versuch unternommen zu haben, diesen armen Leuten zu helfen? Sie wollten diesem Dorf den Rücken kehren, wohl wissend, dass es Überlebende gab, die Schmerzen und Fieber litten? Die voller Furcht auf ihren letzten Atemzug warteten, ja, ihn gar herbeisehnten? Alles in ihr wehrte sich dagegen, drängte sie zurückzugehen. Mit Schaudern erinnerte sie sich, wie Baldo sie aus ihrem sicheren Grab befreit hatte. Ohne seinen Mut und die Bereitschaft, sein Leben für sie zu riskieren, wäre sie längst tot. Müsste nicht gerade er sie verstehen? Gleichzeitig mahnte eine andere Stimme sie zur Einsicht, denn gegen eine Horde plündernder Ritter wären sie machtlos. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Zwei der Dorfbewohner lebten noch, hatte Piet gesagt. Sie reckte das Kinn.
    »Ich werde nach diesen armen Menschen sehen! Und keiner von euch beiden wird mich daran hindern.«
    »Du wirst nicht gehen, verdammt!«, herrschte Baldo sie an.
    Rasch schüttelte sie ihn ab, drehte sich ohne ein weiteres Wort um und eilte davon.

4
     
    B ei dem ersten Toten, den Cristin vor dem Eingang einer halb niedergebrannten Kate am Rand des Dorfangers fand, kniete sie nieder. Für ihn kam jede Hilfe zu spät, und sie schlug die Hand vor den Mund. Über seinen halb geöffneten Lippen kreisten fette Schmeißfliegen, ebenso wie über dem blutgetränkten Wams. Sie schlug ein Kreuz über dem Leichnam, erhob sich schwankend und verließ die Hütte. An der Straße angekommen, blickte sie sich um und entdeckte am Wegesrand zwei weitere tote Männer, deren Köpfe merkwürdig verdreht waren. Mit zusammengebissenen Zähnen steuerte sie auf die kleine Kirche zu. Vielleicht hatte jemand hier Zuflucht gesucht? Sie stieß die windschiefe Holztür auf, betrat das Gotteshaus, kniff die Augen zusammen und spähte hinein. Da, ein paar Schritte neben dem Altar, lag jemand auf dem Holzboden. Sie lief den kurzen Mittelgang hinunter, ging in die Hocke und betrachtete die Frau aufmerksam. Ihr Brustkorb unter dem aufgerissenen Gewand hob und senkte sich gleichmäßig, und ihre Atemzüge waren in der Stille der Kirche deutlich zu hören. Cristin konnte keine äußeren Wunden erkennen, doch das Antlitz der jungen Frau war leichenblass. Vielleicht gab es noch Hoffnung. Mit klammen Fingern strich Cristin ihr über die Stirn. Sie war kühl.
    »Kannst du mich hören?«, fragte sie leise.
    Die Frau öffnete die Augen, als würde es sie große Anstrengung kosten. Ihr Blick schien leblos zu sein. Sie murmelte einige fremd klingende Worte.
    »Ich … verstehe dich nicht, gute Frau.«
    Die Fremde schloss die Augen und biss sich auf die Unterlippe, als würde sie über etwas nachsinnen. »Sind sie … sind sie fort …?« Die Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. Cristin griff nach ihrer schmalen Hand und drückte sie. Die Frau sprach ihre Sprache! »Ja, sie sind fort! Hast du Schmerzen?« Sie ließ die Augen über die Gestalt der Fremden wandern.
    Die Polin öffnete den Mund, sog tief die Luft ein. »Janek«, sagte sie. »Wo ist …«
    Cristins Herz hüpfte, und die Handflächen wurden ihr feucht. »Dein Sohn heißt Janek?« Ihre Stimme zitterte vor Erregung.
    Die Augen der Verletzten füllten sich mit Tränen. »Ja. Hast du meinen Jungen gesehen?«
    »Ja. Dein Sohn lebt, er ist in Sicherheit.«
    Eine zarte Röte kehrte in die Züge der Frau zurück, und ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln.
    »Kannst du aufstehen?«, fragte Cristin.
    Die Angesprochene schüttelte den Kopf und wies auf ihren Leib.
    »Darf ich?« Ohne auf eine Antwort zu warten, schob Cristin die Stofffetzen des Gewandes beiseite. Nur mit Mühe unterdrückte sie einen Aufschrei, denn aus einer Stichwunde über der Scham lief langsam, aber unaufhörlich ein feines Rinnsal Blut. Der metallische Geruch drang in ihre Nase, doch sie nahm noch etwas anderes wahr: den Gestank getrockneten männlichen Samens. »Heilige Jungfrau Maria!«, entfuhr es ihr.
    Cristin schnappte nach Luft. Bilder aus der Vergangenheit drängten in ihr Bewusstsein, und nur mühsam konnte sie sie fortschieben.
    »Es … es tut mir leid, so leid …«, stammelte sie. Sie wird sterben. Selbst die Kraft ihrer Hände würde

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