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Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)

Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerit Bertram
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sie nicht retten. »Kannst du mir sagen, warum … warum das alles geschehen ist?«
    Die Verletzte schloss kurz die Lider und öffnete sie wieder. Ihr Blick wanderte ins Nichts. »Wir waren früher Prußen, wie alle Menschen in dieser Gegend«, erklärte sie leise. »Das war, als mein Großvater noch lebte.« Sie stockte, suchte nach Worten. »Dann kamen die Ritter. Viele Ritter.«
    »Ich verstehe dich. Sprich weiter.« Cristin nahm ihren Umhang von den Schultern und schob ihn der Frau unter den Kopf.
    »Weil wir an andere Götter glaubten, nannten sie uns Heiden. Sie wollten, dass wir das Richtige glauben.«
    Die Frau stöhnte auf. Cristin ballte die Hände.
    »So bauten wir diese Kirche, beteten zu Christus und hielten seine Gebote, wie man uns gesagt hatte.« Sie brach ab und schwieg.
    Cristin beugte sich tiefer über sie. Der Atem der Geschändeten ging jetzt flach und unregelmäßig.
    »Sind alle tot?«, presste sie hervor. Das Sprechen fiel ihr sichtlich immer schwerer.
    Cristin schwieg.
    Die Frau tat einen tiefen Atemzug. »Alle tot … aber mein Janek lebt, sagst du?«
    »Ja. Ich werde ihn mitnehmen und für ihn sorgen.«
    »Pass bitte gut auf meinen Jungen auf«, die Frau drückte ihre Hand. »Bitte.«
    »Ja, das werde ich. Sei ohne Sorge«, versprach Cristin. »Weißt du, warum man euch das angetan hat?«
    Die Augen der Verletzten lagen nun tief in den Höhlen, und sie hatte bereits die durchscheinende Blässe eines Menschen, der an der Schwelle des Todes stand. Ein rasselnder Atemzug, dann sprach sie weiter.
    »Vor einigen Monaten kamen Männer in unser Dorf«, flüsterte sie. Ein Beben überlief ihren Körper. »Gute Männer, wahre Christen. Sie sagten, Gott liebt uns. Der Papst sei nicht gut, sagten sie, und wir sollten nicht zur Jungfrau und zu den Heiligen beten – nur zu Christus, du verstehst?«
    »Ja.« Cristin dachte an Bastian Landsberg, der Ähnliches erzählt hatte.
    »Fast alle hier im Dorf wollten den neuen Glauben. Aber als wir ein Bild von Maria aus der Kirche genommen hatten, schimpften einige Männer mit uns. Sie haben uns bestimmt verraten.« Erschöpft schloss die Frau die Augen.
    Tatsächlich, das kleine Gotteshaus enthielt – anders als Cristin es aus anderen Kirchen kannte – kein Bildnis, keine Statue der Mutter Gottes, ebenso wenig wie Heiligenbilder. Als die Dorfbewohner sich immer mehr vom katholischen Glauben abgewendet hatten, mussten sie alle entfernt haben. Ob diejenigen, die den neuen Glauben gebracht hatten, wohl wussten, dass ihre Lehre für die Menschen hier das Todesurteil sein würde? War es das wert gewesen? Cristins Blick fiel auf das einfache Kruzifix über dem Altar. Ein Sonnenstrahl drang durch das schmale, unverglaste Fenster gegenüber und wanderte zum Kreuz. Ihr war, als veränderte sich der Ausdruck im Antlitz des leidenden Christus, und sie hielt den Atem an. Die Züge des Gekreuzigten waren jetzt weich und voller Barmherzigkeit, mitleidig schienen seine Augen auf der Sterbenden zu ruhen. Beinahe meinte Cristin, die bekannten Worte zu hören, die der Herr einst zu seinen Jüngern gesprochen hatte: »Es kommt aber die Zeit, dass, wer euch tötet, wird meinen, er tue Gott einen Dienst damit.«
    »Sieh nur«, raunte sie und wies auf das Kreuz.
    Die Sterbende schlug die Augen auf und folgte ihrem Blick. Auf dem eben noch schmerzverzerrten Gesicht breitete sich ein seliges Lächeln aus, dann fiel ihr Kopf zur Seite, und die Hand, die Cristin zwischen ihren Fingern hielt, erschlaffte. Wie bei dem alten Mann in der Bauernkate schlug sie auch über dieser Toten das Kreuz. Sie erhob sich und schaute ein letztes Mal auf das Kruzifix an der Wand, das wieder im Halbdunkel lag. Kein Sonnenstrahl erhellte mehr das Antlitz des Gekreuzigten. Mit weichen Knien ging Cristin den Gang hinunter und verließ die Kirche.
     
    Baldo und Piet erwarteten sie bereits ungeduldig.
    »Wird auch Zeit, dass du kommst«, brummte Baldo.
    Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, ging sie an ihm vorbei.
    »Konntest du noch etwas tun?«, wollte ihr Bruder wissen.
    Cristin schüttelte den Kopf. Sie setzte sich neben Janek auf einen umgestürzten Baumstamm und legte ihm den Arm um die Schultern. Nie war ihr etwas so schwergefallen, wie das, was jetzt vor ihr lag. Sie zog den Jungen an sich und schaute in die Wipfel der Bäume, durch die gleißendes Sonnenlicht auf den Waldboden fiel. Es musste sein.
    »Janek«, begann sie. »Schau mich an. Ich muss dir etwas sagen …«
    Der Junge drehte den Kopf.

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