Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
durch die labyrinthartigen Flure, die im Kriegsfall als Fluchtwege dienten. Sie stiegen die steinernen Treppen hinab, und im Burghof angekommen, blinzelte Cristin in die Helligkeit der Mittagssonne.
»Ich habe uns von Juri eine Kalesche anspannen lassen«, meinte Jadwiga und deutete auf einen herrlichen Zweispänner, der vor einem der breiten Marstalltore schon auf sie wartete. »Am liebsten wäre ich geritten, aber ich wusste nicht … bist du des Reitens fähig, Agnes?«
»Leider nicht, Hoheit. In der Stadt, in der ich zu Hause bin, war das nicht notwendig.«
Jadwiga lachte fröhlich auf. »Dann wird es Zeit, dies zu ändern. Für mich gibt es nichts Schöneres, als durch unsere herrlichen Wälder und über die Felder zu reiten, das Gesicht im Wind.« Sie hob den Kopf und sah zum Himmel hinauf, wo ein Bussard auf der Jagd nach Beute kreiste. »Und frei wie ein Vogel.« Ein Schatten huschte über ihre ausdrucksvollen Züge. »Freiheit, Agnes. Auszureiten, wann immer und so lange es mir beliebt, bedeutet Freiheit für mich. Ein Privileg, das leider nur die wenigsten Menschen meines Volkes ihr Eigen nennen können.«
Cristin nickte, ein weiteres Mal verblüfft über Jadwigas Tiefsinnigkeit. Das polnische Volk konnte sich wirklich glücklich schätzen. Allerdings war da auch noch Jagiello …
»Nun komm schon. Worauf wartest du?«, unterbrach die Königin ihre Gedanken und winkte sie zu sich in die offene Kutsche.
Cristin ließ sich neben Jadwiga auf der gepolsterten, mit dunkelrotem Leder bezogenen Sitzbank nieder. Während der junge Mann auf dem Kutschbock die beiden Rappen durch das Burgtor lenkte, schwiegen die Frauen. Das leise Schnauben der Pferde, das Geräusch der Peitsche, wenn sie die Luft zerriss, und der kräftige Wind, der an ihrer Kapuze zerrte, gaben ihr eine Ahnung dessen, was Jadwiga gemeint hatte. Als sie wenig später – begleitet von zwei berittenen Leibwächtern, die der Kutsche in respektvollem Abstand folgten – die Stadt verlassen und das Waldgebiet erreicht hatten, durchbrach die Regentin die Stille.
»Bist du frei, Agnes?«
Cristin schüttelte den Kopf. »Nein, wer ist das schon?«
Die Königin legte ihre behandschuhte Hand auf ihre. »Bitte verzeih meine Neugierde, doch ich frage mich schon seit geraumer Zeit, wer du bist, wer auf dich wartet, und warum du, selbst wenn du lächelst, diesen traurigen Blick hast.«
Sie atmete tief die kalte Luft in ihre Lungen. »Ja, es gibt jemanden, der auf mich wartet, doch ich weiß nicht, ob ich sie jemals wiedersehen werde.« Als Cristin die Tragweite ihrer Antwort klar wurde, biss sie sich auf die Lippen.
Überraschenderweise blieb Jadwiga stumm.
»Sie heißt Elisabeth, und sie ist meine kleine Tochter«, fuhr Cristin mit tonloser Stimme fort, ohne die Königin anzusehen.
Der Druck um ihre Hand verstärkte sich.
»Ich bin auf der Suche nach dem Mörder ihres Vaters, deshalb sind wir hier.« Nun war es heraus!
Sie spürte, wie sich Jadwiga neben ihr versteifte. »Sieh mich an, Agnes.«
Tränen verschleierten Cristins Sicht.
»Ich … kann nicht. Bitte verzeiht, wenn ich Euch nicht die ganze Wahrheit erzählt habe.« Um Fassung ringend schaute sie auf ihre Hände. »In meiner Heimat in Lübeck … für die Bürger dort bin ich schuldig. Sie wollten mich …« Sie brach ab.
»Was wollten sie?«
»Sie wollten mich hinrichten. Adam hat mich vor dem sicheren Tod bewahrt. Ich werde erst zurückkehren, wenn ich meine Unschuld beweisen kann.«
Jadwigas Augen ruhten unvermindert freundlich auf ihr, doch die von der Fahrt zart geröteten Wangen wurden wieder durchscheinend bleich. »Heilige Mutter Gottes«, entfuhr es ihr. »Wie unglücklich musst du sein! Erzähl, liebe Agnes, und lasse nichts aus. Bei mir ist dein Geheimnis sicher.«
Cristin tat, worum die Regentin sie gebeten hatte. Selbst die Tatsache, dass Adam nicht ihr Bruder und dies auch nicht sein richtiger Name war, verschwieg sie nicht. Als sie endete, war ihre Stimme nur noch ein Hauch.
»Kutscher. Halte an! Wir wollen aussteigen.«
Die Kalesche hielt, und die Frauen stiegen in einem Eichenwald aus. Schweigend schritten sie über den gefrorenen Waldboden, jede von ihnen in ihre eigenen Gedanken versunken. Die Stille, die nur ab und zu vom Knacken eines unter der Schneelast brechenden Astes unterbrochen wurde, tat Cristins angespannten Sinnen gut, doch die Luft stach wie Eiskristalle in den Lungen.
Sie warf der Königin einen verstohlenen Seitenblick zu. War sie nicht entsetzt
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