Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
Mechthild.
»Habt Ihr damals, als Ihr das Mädchen brachtet, nicht gesagt, die Mutter der Kleinen sei tot?«
Cristins Schwägerin nickte. »Für meinen Mann und mich war es so. Elisabeths Mutter war zum Tode verurteilt worden – unschuldig. Zum Glück konnte sie fliehen und hat die Stadt verlassen.«
Die Äbtissin beugte sich in ihrem Lehnstuhl vor und sah Cristin an.
»Jetzt wollt Ihr also die Kleine zurück. Nun gut, wenn Eure Schwägerin bezeugt, dass Ihr die Kindsmutter seid, spricht nichts dagegen.« Die alte Frau erhob sich und ging zur Tür, wo sie an einem dünnen Seil zog. Das helle Bimmeln einer Glocke erklang. Kurz darauf wurde die Tür geöffnet, und eine junge Frau im schwarz-weißen Habit der Zisterzienserinnen steckte den Kopf herein. »Mutter Oberin, Ihr habt geläutet?«
»Ja. Geh ins Waisenhaus hinüber und hole die kleine Elisabeth Bremer«, befahl die Äbtissin.
Die Tür schloss sich, und augenblicklich trat Stille ein. Cristin war heiß, und sie bekam keine Luft. Wie lange hatte sie auf diesen Moment gewartet? Es schien ein halbes Leben her zu sein.
»Setzt Euch, Frau Bremer«, hörte sie wie aus weiter Ferne eine Stimme. »Ihr seid bleich.«
Jemand strich mitfühlend über ihre Wange und drückte sie auf ein Polster, ein Becher wurde ihr gereicht, doch sie war nicht fähig, ihn zu halten. Seit Langem schon hatte sie in Gedanken vorbereitet, was sie der Kleinen sagen wollte, aber nun war alles fort, jede Erinnerung an die Worte ausgelöscht. Haben die Nonnen gut für Elisabeth gesorgt? Was mache ich, wenn sie vor mir davonläuft? Wenn sie Angst vor mir hat, weil ich eine Fremde für sie bin? Ihr war es, als wären Hunderte Stimmen in ihrem Kopf. Cristin bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Dann, endlich. Schritte näherten sich. Die Tür wurde aufgestoßen. Blonde Haare, die sich über den Ohren kringelten und die im matten Kerzenschein kupfern schimmerten. Eine kleine Hand, die sich an eine andere klammerte, ein Grübchen am Kinn. Wie gebannt blickte Cristin auf das kleine Mädchen.
»Begrüße deine Mutter, Elisabeth. Eine weite Reise hat sie hinter sich, nun möchte sie dich sehen.«
Die blauen Augen senkten sich, der Mund war kläglich verzogen. Im nächsten Moment verschwand das Mädchen hinter dem langen Rock der Ordensschwester.
»Elisabeth, mein Schatz«, stammelte Cristin und versuchte, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken, doch die folgten ihrem eigenen Gesetz und rannen ihre Wangen hinab.
Energisch wischte sie die Tränen fort. Der Blondschopf lugte hinter dem Gewand hervor, einen Wimpernschlag lang nur, aber lange genug, damit sie das plötzliche Aufhorchen in dem kleinen Gesicht erkennen konnte. Weich wie Wachs waren Cristins Beine, während sie auf Elisabeth zuging, langsam, um sie nicht zu erschrecken. Als die Mutter Oberin ihr aufmunternd zunickte, kniete sie vor der Tochter nieder, die den Daumen in den Mund gesteckt hatte und sie reglos musterte. Auf einmal war da wieder dieses Wiegenlied, das sie der Kleinen stets vorgesungen hatte, wenn sie nicht einschlafen konnte. Wie von selbst formten sich ihre Lippen und summten die einfache Melodie.
Elisabeths Blick kehrte sich nach innen, das Mädchen lauschte.
Cristin streckte die Arme nach der Kleinen aus.
Der Daumen rutschte aus dem Mund.
Nur noch einen Schritt.
»Da!« Das Mädchen hob eine Hand und legte sie an die feuchte Wange der Mutter.
Als Cristin den kleinen Körper umfasste, sank das Köpfchen gegen ihre Brust. Aufatmend sah sie zu Mechthild auf. Dankbarkeit wallte in ihr auf und die Hoffnung, dass sich nun alles zum Guten wenden würde.
»Darf ich dich morgen wieder besuchen, Liebling?«, fragte Cristin, einer inneren Eingebung folgend.
Elisabeth nickte an ihrer Schulter.
»Gut, dann machen wir das so.« Sie wandte sich der Mutter Oberin zu, die Stimme zu einem Flüstern gesenkt. »Ich hoffe, dies ist Euch recht? Ich halte es nicht für ratsam, mein Kind sofort mitzunehmen.«
»Selbstverständlich, Frau Bremer. Kommt, wann immer es Euch beliebt.« Schwester Maria blickte von der Mutter zur Tochter. »Elisabeth sieht Euch ähnlich. Sagt, wo werdet Ihr wohnen? Habt Ihr schon ein geeignetes Heim gefunden?«
Mechthild mischte sich ins Gespräch ein. »Die beiden werden bis auf Weiteres bei mir leben.« Und an Cristin gewandt sagte sie: »Das heißt, wenn du es willst.«
Cristin blickte auf. Sollte sie dieses Angebot annehmen? Anderseits, wo sollten Baldo und sie sonst wohnen? Wenn es nach ihrem
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